Süddeutsche Zeitung

Wohnungslos in München:"Wir müssen oft Frauen abweisen"

Lesezeit: 8 min

Immer mehr Mütter und Kinder finden keine Wohnung und kommen in Hilfsquartieren unter. Doch selbst die sind oft voll.

Von Camilla Kohrs

Alina macht ihre ersten Schritte. Das kleine Mädchen mit den braunen Locken klammert sich an ein Spieltrapez, schiebt es quer durch das Zimmer. Eigentlich ist das Gestell für Babys, die darunter liegen und mit den Spiegeln und Elefanten spielen, die an der oberen Stange befestigt sind. Alina aber benutzt es als Laufhilfe. Wenn sie an einer Seite des Zimmers ankommt, ruckelt sie das Gestell herum und läuft wieder zurück. Das muss sie oft machen, denn viel Platz ist nicht.

Seit Alina zwei Monate alt ist, wohnt sie mit ihrer Mutter Sara Bari (Namen geändert) im Mutter-Kind-Heim des Paritätischen Wohlfahrtsverbands in Sendling. Auf etwa 20 Quadratmetern stehen zwei Betten, eine Kommode und zwei Schränke, dazu ein Tisch und zwei Stühle. Neben der Eingangstür ist ein Waschbecken, daneben eine Tür zu der kleinen Kochnische. Toiletten und Duschen sind auf dem Flur. "Aber es gibt ja auch noch das Spielzimmer", sagt Bari. Dort will sie Ende September den ersten Geburtstag ihrer Tochter feiern. Gemeinsam mit anderen Müttern und Kindern aus dem Wohnheim.

62 Frauen mit mehr als 80 Kindern leben derzeit in dem Haus in Sendling. Mehr als die Hälfte der Frauen hat Gewalt oder Missbrauch erlebt. Manche haben psychische Probleme. Andere sind nach der Geburt ihres Kindes auf sich allein gestellt, ohne Job und ohne Aussicht auf eine Wohnung. Die Frauen gelten offiziell als wohnungslos, das heißt, sie finden auf dem normalen Wohnungsmarkt keine Bleibe und müssen in Notquartieren unterkommen, in Wohnheimen der Stadt oder freier Träger wie dem Mutter-Kind-Heim der Paritätischen. Ihre Zahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht. Das Sozialreferat geht derzeit davon aus, dass 9000 Menschen in München keine Wohnung haben, mehr als 3800 davon sind Frauen und Kinder. Weitere 500 Menschen leben als Obdachlose auf der Straße.

Die Zahl derjenigen, die eine Wohnung suchen, aber keine finden, dürfte weitaus höher liegen. Mitarbeiter von Hilfsunterkünften berichten von Frauen, die bei ihren Ex-Partnern bleiben, obwohl sie bereits getrennt sind und obwohl die Männer teilweise gewalttätig sind. Andere kommen bei Verwandten und Bekannten unter, verbringen ein paar Nächte hier, ein paar Nächte dort. Teilweise tauschen Frauen sexuelle Gefälligkeiten gegen einen Platz zu wohnen.

Offizielle Informationen zur Situation wohnungsloser Frauen zu bekommen, ist nicht einfach: Das Sozialreferat in München führt keine Statistik, kann nur in den aktuellen Anträgen nachschauen, wie viele Frauen darunter sind. Die Zahlen im bayerischen Sozialbericht von 2017 sind alt, sie stammen von vor vier Jahren. Damals seien in Bayern mehr als 12 000 Menschen wohnungslos gewesen, darunter etwa 1800 Frauen.

"Für keinen von uns ist die Suche auf dem privatem Wohnungsmarkt einfach, für diese Frauen ist sie unmöglich", sagt Laura Fischer. Die Sozialberaterin arbeitet seit etwa einem Jahr im Paritätischen Mutter-Kind-Haus und kennt viele der Frauen. "Wohnungslosigkeit ist vielfältig, sie hat viele Gesichter", sagt sie. Es kommen Frauen mit und ohne Arbeit, mit deutschem oder mit einem ausländischen Pass. Wie lange die Frauen in dem Wohnheim bleiben, ist sehr unterschiedlich: einige ein paar Monate, viele andere mehr als ein Jahr. Mehr als die Hälfte der Frauen war zuvor bereits in anderen Unterkünften.

Auch für Sara Bari ist es bereits die dritte Unterkunft. Vor fünf Jahren ist die 30-Jährige aus Ludwigshafen nach München gezogen. Jahrelang hatte sie für die teure Ausbildung zur Kosmetikerin gespart. In München lebte sie gemeinsam mit anderen Auszubildenden und Studenten in einer Wohnung in Aubing, am westlichen Stadtrand. Sie hatte die Ausbildung gerade abgeschlossen, als sie schwanger wurde, sagt sie. Sie erzählte ihrem Vermieter davon, er gab ihr drei Monate Zeit, um auszuziehen. "Ich habe wirklich viel gesucht, ich habe nicht auf der faulen Haut gelegen", sagt sie. Ihre Schwangerschaft entwickelte sich zusätzlich zu einer Risikoschwangerschaft, sie musste viel liegen und sich ausruhen. "Ich hatte damals eigentlich nach einem Job gesucht, aber wegen der Schwangerschaft und der Wohnungssuche habe ich damit aufgehört."

Am Anfang, sagt sie, habe sie sich geschämt, dass sie im Mutter-Kind-Heim wohnte. Mittlerweile habe sie es aber auch ihren Eltern und Freunden erzählt. "Es ist schon okay." Bari ist kein Mensch, der sich gern beschwert. Hier im Haus habe sie viel Hilfe bekommen. Eine Hebamme kam oft vorbei, als Alina noch klein war. Es werden Nähkurse angeboten und andere Aktivitäten, ein Kindergarten ist gleich um die Ecke. Da will sie Alina bald anmelden. Aber manchmal fühle sie sich doch ungerecht behandelt, weil sie keine Wohnung bekomme. Vielleicht habe das mit den Gesetzen zu tun, sagt sie. Über den Vater spricht sie nicht gern. "Es gibt keinen Kontakt mehr zu ihm, auch nicht wegen der Tochter", sagt sie. Er hatte sie alleine gelassen, als sie auf Hilfe angewiesen war. Schwanger, ohne Job und ohne Mann hatte sie auf dem Wohnungsmarkt keinen Erfolg, aber immerhin ein wenig Glück: Einige Tage bevor sie aus ihrer WG ausziehen musste, erzählte ihr eine Bekannte von Karla 51, einem Frauenobdach nahe dem Münchner Hauptbahnhof. Sie ging gleich dorthin und konnte am nächsten Tag einziehen.

Karla 51 ist eine Erstanlaufstelle für wohnungslose Frauen, in der sie schnell und unkompliziert für maximal zwei Monate unterkommen können. Doch immer mehr Frauen blieben länger, sagt Isabel Schmidhuber, eine der zwei Leiterinnen. Vor zehn Jahren hätten dort über das Jahr noch etwa 300 Frauen Unterkunft gefunden. 2017 waren es nur noch knapp halb so viele. Denn nicht nur reguläre Wohnungen sind Mangelware, auch Anschlusseinrichtungen wie das Paritätische Mutter-Kind-Haus haben mittlerweile lange Wartezeiten von teilweise mehr als sechs Monaten. "Es werden immer mehr Frauen mit Kindern, die zu uns kommen", sagt Schmidhuber. "Wir müssen oft Frauen abweisen oder vertrösten."

Viele dieser Frauen haben theoretisch Anrecht auf eine Sozialwohnung. Doch die sind in München knapp. Etwa 14 000 Haushalte, darunter 11 500 in der obersten Dringlichkeitsstufe, warten auf eine Sozialwohnung. Die tatsächliche Warteliste dürfte sogar noch länger sein: "Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt noch Rückstände in der Bearbeitung", sagt eine Sprecherin des Sozialreferats. Sobald die Anträge abgearbeitet seien, werde man noch einmal eine Steigerung verzeichnen. In diesem Jahr wird das Amt etwa 2800 Wohnungen vergeben können.

In den vergangenen Jahren ist die Warteliste immer länger geworden, Ende 2016 waren es noch 3000 Haushalte weniger in der obersten Dringlichkeitsstufe. Doch warum ist die Zahl so stark angestiegen? Das könne nur mit dem allgemeinen Wohnungsmarkt begründet werden, heißt es aus dem Sozialreferat. Die Haushalte nutzten alle Möglichkeiten, um an eine Wohnung zu kommen. Um zu ermitteln, wie nötig jemand eine Sozialwohnung hat, vergibt das Sozialreferat Punkte. Dafür untersuchen die Mitarbeiter Kriterien wie Einkommen, die derzeitigen Wohnverhältnisse und wie lange die Antragsteller bereits in München sind. Schwangere Frauen, Familien, junge Ehepaare, ältere oder schwerbehinderte Menschen haben Vorrang. Ab 70 Punkten gehört man zu den dringendsten Fällen.

Bari hat 108 Punkte. Sie ist seit einem Jahr bei der Sowon registriert, der Internetplattform für Sozialwohnungen. Dort bewirbt sie sich jede Woche um Wohnungen. Auf der Internetplattform kann man sehen, wie viele andere Haushalte sich beworben haben. Mal sind es 47, mal mehr als 100, je nach Preis und Lage. "Mir ist es eigentlich egal, wo die Wohnung ist", sagt sie. Am liebsten hätte sie zwei Zimmer für sich und ihre Tochter. Aus allen Bewerbern laden die Vermieter eine Handvoll Interessenten ein, die die Wohnung besichtigen können. Bisher, so erzählt Bari, war sie noch nie unter den Auserwählten.

Louanne Balling (Name geändert), 28 Jahre

"Ich musste es alleine schaffen, niemand hat mir geholfen", sagt Louanne Balling. Als die 28-Jährige schwanger wurde, studierte der Vater gerade in Italien. Er versprach, nach dem Ende seines Studiums nach München zu kommen, um ihr mit dem Kind zu helfen. Doch der Vater brach sein Versprechen. "Ich wollte eigentlich nach der Geburt wieder in meinen Job als Altenpflegerin zurück", sagt sie. Doch als Alleinerziehende kann sie sich nur schlecht auf die unregelmäßigen Arbeitszeiten einstellen. "Als Altenpflegerin arbeitet man oft früh morgens oder abends, das geht ohne Hilfe nicht." Balling wohnt noch immer in der Einzimmerwohnung in der Maxvorstadt, in die sie während ihrer Ausbildung gezogen ist. Die Wohnung ist etwa 20 Quadratmeter groß, Balling schläft gemeinsam mit ihrer Tochter auf einem Sofabett. Wenn ihre Tochter in der Wohnung spiele, habe sie immer Angst, dass sie sich wehtue. "Im Sommer nehme ich einfach den Kinderwagen und laufe viel mit ihr draußen herum", sagt sie. Im Winter aber werde es eng in der Wohnung. "Ich würde gern weiter aus der Stadt rausziehen, wo es ruhiger ist, aber ich finde nichts." Bei ihren Eltern könne sie nicht wohnen. Ihre Mutter wohne in einem Frauenhaus in München, Ballings Adoptivvater in der Nähe von Bamberg, gemeinsam mit dessen Mutter, die ein Messiproblem habe. "Die ganze Wohnung steht voll", sagt Balling. Außerdem habe ihr Adoptivvater psychische Probleme. "Ich würde ihn gern bei mir aufnehmen, mich um ihn kümmern. Aber in meine Wohnung passt er nicht rein", sagt sie. Balling will bald wieder anfangen zu arbeiten, aber nicht als Krankenpflegerin, sondern als Erzieherin. "Zu Hause zu sitzen, ist nicht mein Ding." Sie habe auch schon überlegt, dafür aus München wegzuziehen. "Mir ist egal wohin, Hauptsache günstiger."

Beate Raber (Name geändert), 56 Jahre

Beate Raber schlägt sich seit sechs Jahren bei Bekannten und Verwandten durch, so lange hat sie schon keine eigene Wohnung mehr. Vor 2012 lebte sie gemeinsam mit ihrem Mann in einem Haus, bis sie finanzielle Probleme bekamen. Am Ende verloren sie ihr Haus und auch ihre Ehe. Zuerst schliefen sie und ihr 20-jähriger Sohn bei Rabers erwachsener Tochter. Doch nach ein paar Wochen wurde es zu eng, Raber musste gehen. Seitdem wechselt sie alle paar Nächte die Unterkunft. Ihr Sohn habe mittlerweile eine Wohnung außerhalb von München im Landkreis Aichach, ihre Tochter lebt im Landkreis Pfaffenhofen. "Die sind komplett von München weg", sagt Raber. Ein bisschen Wehmut liegt in ihrer Stimme. Der Stress mit dem Haus und der anschließenden Wohnungslosigkeit habe ihr psychisch und körperlich zugesetzt. Seit 2013 hat sie Probleme mit den Lendenwirbeln, musste schon öfters operiert werden. Seitdem ist sie krankgeschrieben, darf nicht arbeiten. Eine Umschulung vom Arbeitsamt musste sie deswegen abbrechen. "Sie sind ja gar nicht vermittelbar", sei ihr da gesagt worden. "Mittlerweile sind auch Einzimmerwohnungen schon bei 800 bis 900 Euro. Das geht gar nicht für mich." Es gebe ja auch ein Limit, was die Stadt an Kosten für eine Wohnung übernehme, sagt sie. Und selbst wenn sie eine Einladung bekomme, dann könnten die Vermieter ja immer noch aussuchen. "Die fragen mich: Haben Sie ein Einkommen? Sind Sie verheiratet?" Man werde sehr schnell abgestempelt, klagt sie. Ihr ist es wichtig zu betonen, dass sie keine Alkoholprobleme habe. Viele Menschen würden das bei Wohnungslosen denken. "Ich bin Münchnerin", sagt sie und klingt verzweifelt. Aber als normaler Münchner habe man inzwischen keine Chance mehr auf eine Wohnung.

Sarah L., 26 Jahre

Sarah L. sitzt in ihrem Zimmer im vierten Stock eines Mutter-Kind-Hauses in München. "Von den blauen Bergen kommen wir", tönt es aus dem Fernseher. Baron, L.s einjähriger Sohn, springt durch das Zimmer und singt mit, es ist sein Lieblingslied. L. wohnt seit Ende Mai hier und wartet darauf, dass sie eine Sozialwohnung bekommt. Die 26-Jährige lebt seit eineinhalb Jahren in Deutschland, eigentlich kommt sie aus Ghana. Ihr Kind ist hier geboren und auch der Vater lebt schon seit längerer Zeit in Deutschland. Beide haben einen Aufenthaltstitel, L. darf zunächst für drei Jahre bleiben. Von der Hilfe, die alleinerziehende Mütter in Deutschland bekommen, ist sie beeindruckt. "In Ghana ist das nicht so, da müssen die Frauen selbst schauen, wo sie bleiben", sagt sie. Dabei hatte sie es am Anfang auch nicht leicht. Bei dem Vater ihres Sohnes konnte sie nicht wohnen. Warum, das möchte sie nicht näher ausführen. Und für eine Sozialwohnung konnte sie sich nicht bewerben, weil sie noch nicht in München gemeldet war. L. kam zunächst bei einer Freundin unter. Nach ein paar Wochen bat diese L. jedoch auszuziehen und empfahl ihr Karla 51, eigentlich ein kurzfristiges Notquartier. Normalerweise bleiben Frauen dort nur acht Wochen. Sarah L. aber blieb ein Jahr. Erst im Mai konnte sie das Zimmer im Mutter-Kind-Haus beziehen. L. spricht gut Deutsch. Wenn ihr einige Wörter nicht einfallen, beendet sie den Satz auf Englisch. Sie hat vor Kurzem mit einem Sprachkurs begonnen und wartet, dass ihr Sohn in die Kita kommt. Dann, hofft sie, findet sie eine Arbeit. Zum Beispiel als Übersetzerin. In Ghana hat sie bei einer Nichtregierungsorganisation gearbeitet, die armen Menschen Schwimmen beigebracht hat. In der Nähe vom Wohnheim ist ein Schwimmbad. "Dort gehe ich hin, wenn ich Ruhe brauche."

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Quelle:
SZ vom 18.09.2018
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