Süddeutsche Zeitung

Stadtpolitik:Immer mehr Wohnungslose in München

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Wohnungslosen etwa verdreifacht. Die Rathauskoalition will dieser Entwicklung entgegensteuern und die Vergabe von städtischen Immobilien ändern.

Von Bernd Kastner

Die Zahl der wohnungslosen Menschen steigt und steigt. Derzeit leben rund 9000 Münchnerinnen und Münchner in Unterkünften. Sie sind nicht obdachlos, übernachten also nicht auf der Straße, haben aber keine eigene Wohnung und leben oft auf engem Raum, teilen sich Sanitäreinrichtungen und Küche; Kinder haben keinen Rückzugsraum. Die Zahl der Wohnungslosen hat sich in den vergangenen zehn Jahren etwa verdreifacht.

Die grün-rote Mehrheit im Stadtrat will nun versuchen, die Lage etwas zu entspannen: Es sollen mehr städtische Wohnungen an wohnungslose Haushalte vermietet werden, insbesondere Familien will man helfen. Grün-Rot will dafür die Quotenregelung bei der Vergabe städtischer Wohnungen ändern. Es sollen weniger Wohnungen an städtische Mitarbeiter gehen, dafür mehr an Wohnungslose.

Die Initiative stammt von Grünen-Stadtrat Bernd Schreyer, der früher im Wohnungsamt gearbeitet hat. Seine Fraktion und die von SPD/Volt wollen diesen Donnerstag einen Antrag im Stadtrat einbringen. Grün-Rot ist beunruhigt über die Entwicklung auf dem Mietmarkt, speziell in dem Segment, das für Menschen mit wenig Geld da ist - oder da sein sollte. Obwohl in München laut Antrag 14 000 neue Sozialwohnungen seit 2010 gebaut wurden, sei der Bestand gleich geblieben, bei rund 34 000.

Die neuen Wohnungen kompensieren gerade mal jene, die aus der Sozialbindung fallen und nach und nach zu höheren Preisen angeboten werden. Zugleich steigt die Zahl der Wohnungen, die nicht mehr der Bindung unterliegen, aber weiterhin in städtischem Eigentum sind: Das seien laut Schreyer 12 000 mehr als 2010, derzeit rund 42 000. Sie gehören meist den städtischen Gesellschaften GWG und Gewofag, auf sie hat die Stadt weiter Zugriff und vermietet sie an Berechtigte.

Unter den derzeit etwa 9000 Wohnungslosen im System der Unterbringung sind, und das beunruhigt Schreyer am meisten, mehr als 1700 Minderjährige. Hinzu kommen etwa 850 Mädchen und Jungen aus Flüchtlingsfamilien, die ein Bleiberecht haben, aber meist seit Jahren in städtischen oder staatlichen Asylheimen leben. Sie alle haben bisher sehr geringe Chancen auf eine eigene Wohnung. Wegen Corona ist die Fluktuation in den Wohnungen nochmals geringer geworden, und damit die Chance auf einen Umzug. Mitunter leben Familien mit mehreren Kindern schon seit einigen Jahren sehr beengt in Unterkünften.

Die Stadt soll ein Konzept erarbeiten, um langjährige Wohnungslose auf eine eigene Bleibe vorzubereiten

Grün-Rot möchte die Situation etwas entschärfen, indem man an zwei Stellschrauben dreht: Die Vergabequote für die wachsende Zahl der derzeit 42 000 Wohnungen ohne Bindung, aber mit Belegrecht, soll verändert werden. Während bisher jede zweite dieser Wohnungen an städtische Bedienstete ging, soll dieser Anteil auf 45 Prozent abgesenkt werden. Der Anteil, der durch GWG und Gewofag belegt wird, wenn etwa jemand innerhalb einer Wohnanlage umziehen will, soll von 15 auf zehn Prozent reduziert werden. Das ermöglicht, die Quote für Wohnungslose von 20 auf 30 Prozent zu erhöhen. Pro Jahr werden insgesamt etwa 3500 Sozialwohnungen neu vermietet; darunter dürften, so schätzt Schreyer, um die 2000 Wohnungen sein, die ohne Bindung sind. Von ihnen soll künftig nicht nur jede fünfte, sondern fast jede dritte an Wohnungslose gehen.

Die zweite Stellschraube heißt "Direktvergabe" an mehr Familien als bislang. Es ist bisher schon möglich, Menschen, die seit Langem unter besonders prekären Umständen leben, direkt eine Wohnung zu vermitteln. Damit sparen sich die Betroffenen die Bewerbung über das städtische Vergabeportal "Sowon", in dem viele Familien oft über Jahre vergeblich eine Bleibe suchen. Künftig sollen nach dem Willen von Grün-Rot pro Jahr 60 Familien direkt in Sozialwohnungen ziehen dürfen, zehn von ihnen in große Wohnungen, die Raum für mehrere Kinder bieten.

Schreyer verspricht sich vom Drehen an den beiden Stellschrauben nicht nur einen Gewinn für Familien, sondern auch einen finanziellen - für die Stadt. Eine Familie ein Jahr lang in einer Unterkunft zu beherbergen, koste die Stadt zwischen 50 000 und 100 000 Euro, sagt er. Ziehen 60 Familien, die sonst bis zu fünf Jahre in einer Unterkunft gelebt hätten, in eine "normale" Wohnung, spare die Stadt allein damit rund 15 Millionen Euro, rechnet Bernd Schreyer in der Begründung für seinen Antrag vor.

Für viele Familien, die seit Jahren in einer Unterkunft leben, ist es schwierig, sich an den Alltag als Mieterinnen und Mieter zu gewöhnen. Deshalb solle die Stadt nach dem Willen von Grün-Rot ein Konzept erarbeiten, um diese Personen auf "eigenständiges Wohnen" vorzubereiten. Es sei nötig, diese Vorbereitung in die sozialpädagogische Betreuung zu integrieren. Außerdem sollen diese Familien mindestens ein Jahr lang auch nach dem Umzug noch begleitet werden.

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SZ vom 25.03.2021/lfr
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