Süddeutsche Zeitung

München Wiki:Klick ins Innere der Stadt

Nützliche Informationen und Geheimtipps - "München Wiki" ist ein erfolgreicher Ableger von Wikipedia.

Hans Häuser

In Giesinger Kneipen ist ein Mörder unterwegs. Kommissare ermitteln im Café Jasmin in der Augustenstraße. Nur bei Kriegseisen ist alles friedlich. Klingt ungewohnt, steht aber bei www.muenchenwiki.de.

Die Internetseite ist ein Ableger des Online-Lexikons Wikipedia, in dem jeder Benutzer neue Einträge verfassen und alte verändern kann.

Genauso funktioniert Münchenwiki, und weil alle Münchner mitschreiben können, ist dort auch allerhand Seltsames über unsere Stadt zu lesen, gleich neben Informationen über Sehenswürdigkeiten, Behörden oder Friseure.

Mit zwei Laptops sind Maximilian Sterz und Volker Killesreiter in ein Café in der Maxvorstadt gekommen. Beide tragen lange Haare, die ihnen ins Gesicht fallen, wenn sie auf der Tastatur tippen. Beide haben gerade fertig studiert, Sterz Germanistik, Killesreiter Informatik.

Als Sterz im Frühjahr seine Magisterarbeit über Wikipedia schrieb, kam ihm die Idee zu Münchenwiki. "Eigentlich wollten wir nur mal ein bisschen rumprobieren", sagt er, "aber dann haben nicht nur wir, sondern auch fremde Leute Beiträge geschrieben." Mittlerweile sind knapp 650 Artikel angelegt. "Ich wünsch' mir, dass noch mehr mitmachen und so ein Infoportal für München entsteht."

Auf ein paar Seiten ist Sterz besonders stolz. Vom Neubau der Kunstakademie, den Coop Himmelb(l)au geplant hat, hat er Fotos ins Münchenwiki gestellt. Kurz darauf wies die Internetseite des ORF auf den Artikel hin.

Ein anderer Benutzer, offensichtlich leidenschaftlicher Sendlinger, hat bei Münchenwiki alles aufgeschrieben, was er über Religion, Kinderbetreuung, Waschsalons und Bioläden in seinem Viertel weiß. Und wer bei Google Informationen über die Allianz Arena sucht, dem wird an fünfter Stelle geraten, doch mal bei Münchenwiki nachzuschauen.

Laptop statt Eidbuch

Auf den ersten Blick gibt es bei Münchenwiki kaum einen Unterschied zu Wikipedia, außer dass sich links oben auf der Seite keine Weltkugel dreht. Dort hat das Münchner Kindl Platz genommen, in seiner schwarzen Kutte.

Im Gesicht sieht es ein bisschen chinesisch aus, weil Sterz und Killesreiter viel Gelb auf die Seite gemalt haben, damit das mit dem Schwarz die Münchner Farben ergibt. Im Stadtwappen trägt der Mini-Mönch normalerweise sein Eidbuch in der Hand, das geht im Internet natürlich nicht mehr, da hat er einen Laptop auf dem Schoß.

Wenn einem ein "Schoas" entgleitet, dann "reapet" es. Auch ganz schön Derbes liest man auf Münchenwiki. Verfasst hat es Benutzer Andi, ein Altöttinger, der jetzt in Regensburg wohnt. Gemeinsam mit Florian Langgärtner hat er ein Bayerisch-Hochdeutsches Wörterbuch angelegt.

Dazu schreibt Andi: "Grod in Minga nimmt des Houdeitsche a weng überhand. Desweng drog i gern wos in des Bayrisch Lexikon ei und so kimmd a a bissl Dialekt mid eine." Gerade in München nehme das Hochdeutsche etwas überhand. Deswegen trage er gerne etwas ins Bayerisch-Lexikon ein, so komme ein wenig Dialekt hinzu.

Die Sprachnachhilfe ist zwar nicht Münchnerisch, sondern rauestes Oberpfälzisch bis Niederbayerisch, aber in diesen dialektarmen Zeiten muss man für alles dankbar sein.

Obwohl: Unter dem Stichwort "Bierdimpfe" wird erklärt, das sei ein Mensch "nahe dem Alkoholiker; jemand der gern seine Nachmittage im Biergarten verbringt". Hochgerechnet leben also in München 1,3 Millionen Bierdimpfe und Beinah-Alkoholiker? Gut, dass die Artikel auch jeder wieder ändern kann.

Doch das ist riskant. Beim großen Wikipedia trauten kurz nach der Papstwahl in diesem Frühjahr einige Besucher ihren Augen nicht. Auf der Seite von Benedikt XVI. thronte der Imperator aus dem Science-Fiction Film Star Wars.

An einem Nachmittag im August war dann zu lesen, Rudolf Heß sei ermordet worden. Harmlose Scherze und handfeste Nazi-Lügen - beides ist möglich, wenn jeder die Artikel mitgestalten kann. Wikipedia steht deswegen seit einigen Wochen in der Kritik.

Hutpflicht im gesamten Stadtgebiet

Auch bei Münchenwiki gibt es erste Fälle von Manipulation. Auf der Hauptseite hat ein Spaßvogel ein paar Wörter gelöscht. Die Telefonnummer des Friseurs "Die mit den Scherenhänden" lautete vorübergehend "hjkluig". Und die Gaucho-Partei fordert die Einführung der Hutpflicht im gesamten Stadtgebiet.

Über solche Scherze kann man noch lachen, aber was, wenn ein böswilliger Berliner auf die Idee kommt, seine Stadt bei Münchenwiki zur wichtigsten der Republik auszurufen? Oder hinterhältige Hamburger streichen Auszogne, Weißwurst und Leberkäs von der Liste der Münchner Spezialitäten und ersetzen sie durch Labskaus, Grünkohl und Pinkel? Schon jetzt muss Sterz täglich prüfen, ob die Einträge stimmen.

Nach den jüngsten Skandalen um Falschmeldungen bei Wikipedia hat jemand geschrieben, die Seite sei eher ein Vor- als ein Nachschlagewerk - für das Online-Lexikon ein ebenso sprachgewitztes wie vernichtendes Urteil.

Nicht unbedingt auch für Münchenwiki, diese Mischung aus Branchenbuch und Stadtführer. Sterz findet, die Bezeichnung wäre ein Lob: "Wir sind ja gerade keine Enzyklopädie. Wir wollen lieber Geheimtipps austauschen."

Geheimtipps wie den Friseur Kriegseisen in der Innenstadt. Das Café Jasmin, in dem schon mehrere Tatort-Krimis gedreht wurden. Oder den Mord von Giesing, ein Detektivspiel in den Kneipen des Viertels.

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Quelle:
SZ vom 17.12.2005
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