Schaut Fred Schreiber in seinem Büro auf die Wand ihm gegenüber, blickt er auf ein gemaltes Herz. "Amore" steht daneben als Gruß. Und: "Danke Euch, ihr Lieben." Es ist eine Botschaft der Wiener Band Wanda an das Team von Ego FM. Und an Fred Schreiber, Programmchef des Senders. Geboren und aufgewachsen ist er in München, seit 25 Jahren lebt er in Wien - und arbeitet jetzt bei einem Radiosender in seiner alten Heimatstadt. Er pendelt. Und bringt schon mal Musik aus Österreich nach Deutschland. Europäische Freiheit.
"Wir sind der erste Sender in Deutschland, der Musik von Wanda im Radio gespielt hat", sagt Schreiber, Jahrgang 1970, sonore Stimme, seit mehr als 20 Jahren im Radiogeschäft. Nach so einem Satz macht Schreiber erst einmal eine Pause. Um dem Ganzen mehr Gewicht zu geben. Er sitzt an einem Augusttag in Flip-Flops, knielanger Jeans und orangefarbenem Frottee-Hemd in seinem Büro. Das Fenster und die Bürotür stehen offen, trotzdem steht die Luft im Raum. Kaum Luftzug. Dann sagt er: "Das sagt die Band noch heute bei jedem Interview." Im Oktober 2014 erschien Wandas Debütalbum "Amore". Zur gleichen Zeit war Schreiber Programmchef bei Ego FM in München. Schon von 2014 bis 2016 hatte er die Position inne, auf die er im September 2019 wieder zurückkehrte.
27 Menschen arbeiten bei dem Münchner Radio. Seit Corona sitzen nur noch wenige von ihnen gleichzeitig im Büro, die meisten sind im Home-Office, bis Ende des Jahres gilt beim Sender selbstbestimmtes Arbeiten. Schreiber ist jetzt nur noch jede zweite Woche in München. Für drei Tage. Montags fährt er in Wien um 6.30 Uhr morgens los. Mittwochs kehrt er gegen Mitternacht nach Wien zurück. Telefon- und Videokonferenzen kann er auch von dort aus halten. Zudem hat er in seiner Wohnung ein kleines Tonstudio eingerichtet.
"Radio, aber anders." So sieht sich Ego FM. Und dafür soll auch Schreiber als Programmchef sorgen. Zwei Drittel der Hörer sind nach eigenen Angaben zwischen 30 und 50 Jahre alt, 30 Prozent sind zwischen 20 und 30. Es geht "um die Älteren, die irgendwann mit dem Radio aufgehört haben" und um die Jungen, "für die Radio noch nie ein Medium war", sagt Schreiber. Und weil sich das Hörverhalten ändert, krempelte der Programmchef den Sender in einem Punkt um. Er machte aus Ego FM ein Wochenmagazin.
Zu den Aufgaben seines Senders gehöre es natürlich, "die richtige Musik" zu spielen, sagt Schreiber, "aktuelle Musik, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat" und "aktuelle Musik, von der wir glauben, dass man sie in 20 Jahren als Klassiker bezeichnet". Und dabei sei es natürlich auch wichtig, "Musik zu entdecken". Auch in Wien. "Das gibt es aber auch in München", sagt er, zum Beispiel "die Kytes oder Milky Chance". In beiden Städten kennt sich Schreiber - selbst Musiker - aus. In beiden Städten ist Schreiber zu Hause.
Fred Schreiber wuchs im Münchner Vorort Höhenkirchen auf. Mit 18 zog er nach München, in die Maxvorstadt. Tagsüber studierte er Archäologie, abends war er Stammgast im Heppel und Ettlich. Schon bald wurde ihm bewusst, dass Archäologie zwar "ein wunderschönes Hobby" sei, aber wenig Berufsmöglichkeiten bot. Seine damalige Freundin - so erzählt es Schreiber zumindest - habe ihm geraten, seine Stimme beruflich zu nutzen. So sei er auf die Idee gekommen, Radio zu machen. Er absolvierte ein Praktikum bei Radio Energy, volontierte bei Radio Gong. An manchen Tagen stand er morgens um 4.30 Uhr auf, um am Comedy-Format "Langemann und die Morgencrew" mitzuarbeiten - Michael Bully Herbig und Rick Kavanian schrieben etwa Sketche für diese Show. Eine gute Schule.
In den Neunzigerjahren wollte Schreiber dann raus aus München. Sein erster Gedanke: Berlin. Diese Stadt war ihm aber "zu groß, zu schnell". Seine Befürchtung: "Da gehe ich verloren." Sein zweiter Gedanke: Wien. Diese Stadt fand er "fantastisch". Warum? "Wegen der Langsamkeit." Schon damals hatte Schreiber dort einen kleinen Sprecherjob, viermal im Monat musste er in Wien vor Ort sein und Texte einsprechen. Er erinnert sich: "Ich wurde damals noch in Schilling ausbezahlt." Und auch die langen Wartezeiten wegen der Grenzkontrollen hat er noch im Gedächtnis. Auch das war ein Argument für ihn, 1995 nach Wien zu ziehen.
"Grau und trist" war damals die österreichische Hauptstadt, noch lange nicht die lebenswerte Metropole, die sie heute ist. Sie hatte "kaum Kulturangebot für junge Menschen, noch kein internationales Flair". Zudem habe kein Einheimischer einen Grund gesehen, warum ein Deutscher nach Wien ziehen sollte. Saß er abends in einer Bar, hieß es: "Du bist aber nicht von da." Und heute? "Früher war ich Exot, jetzt ist jeder zweite Kellner ein deutscher Student." Und man "macht sich nicht mehr lustig über den Piefke. 1995 war das noch so."
"Alles, was in Österreich passiert, passiert in Wien", sagt Schreiber. "Aber nicht alles, was in Deutschland passiert, passiert in München." Was ist das Besondere an Wien? "Hier wohnen Menschen aus der ganzen Welt, auch einfach, weil sie sich die Stadt leisten können", sagt Schreiber. Aber das ist nicht der einzige Unterschied zu München. Wichtig sei zudem, dass Wien die Einflüsse aus der ganzen Welt zulasse. Wien sei mit den Jahren jünger geworden. Es gebe mehr Kneipen als früher. Und die Stadt verändere sich auch sprachlich. "Heute sprechen fast alle ein astreines Hochdeutsch. Auch das sind die Auswirkungen Europas." Schreiber nennt es "Kika-Deutsch". Und das wird auch in seiner Familie gesprochen. Er ist verheiratet mit einer Wienerin, seine Kinder sind 11, 14 und 17 Jahre alt, "sie unterscheiden sich "sprachlich kaum von Kindern in Berlin".
1995 war hingegen auch das Wienerische eine neue Welt. "Ich bin zwar mit österreichischem Fernsehen aufgewachsen, daher war sprachlich eigentlich alles bekannt", sagt Schreiber. Aber die Nuancen musste auch er erst kennenlernen, etwa beim Ausspruch: Da reden wir morgen drüber. "Der Deutsche ruft morgen an, der Wiener hingegen wertet das als klare Absage." Und seitdem er in Wien wohnt, habe sich sein Vokabular vergrößert. So sei zum deutschen und bairischen Begriff immer noch ein dritter Ausdruck hinzugekommen: Bürgersteig, Gehweg, Trottoir.
In Österreich machte Schreiber Karriere bei Radio und Fernsehen. Lange moderierte er beim österreichischen Jugendkultursender FM4 die Sendungen "Update" und "Connected". Zudem konzipierte er mit David Schalko die ORF-Fernsehsendung "Sendung ohne Namen". Für diese Programmidee erhielt er 2003 den österreichischer Film- und Fernsehpreis "Goldene Romy". Für die ORF-Produktion "Willkommen Österreich" - eine Late-Night-Show, moderiert von Dirk Stermann und Christoph Grissemann - arbeitete er als Regisseur, Autor und Darsteller. 2009 erhielt er erneut einen Fernsehpreis, diesmal für das Drehbuch zur ORF-Fake-Doku "Das Wunder von Wien". Die Dokumentation erinnert an die Fußballspiele der EM 2008, die Österreich zum Europameister gemacht haben sollen. Man kennt den österreichischen Nationalstolz beim Sport. Österreich scheiterte in Wirklichkeit in der Vorrunde.
"Bayern schaut eifersüchtig nach Österreich", sagt Schreiber. Wieder so ein Satz, den der Radiomann erst einmal im Raum stehen lässt mit einer langen Pause. Schreiber verweist zunächst auf die in seinen Augen besseren Rundfunkprogramme. Und auf die Musik. Österreichische Bands "machen derzeit einfach eine spannendere Musik". Warum? Wieder eine Pause. Dann sagt er: "Weil es ihnen wurst ist." Bitte? Im alternativen Musikbereich, sagt er, habe es nach Falco kein österreichischer Künstler mehr in die deutsche Hitparade geschafft. Und aus dieser Hoffnungslosigkeit heraus "hat sich eine verhaltensauffällige Szene gebildet". Ach Österreich. Amore.