Süddeutsche Zeitung

Schwanthalerhöhe:Der Hunger bleibt

"Das Westend tafelt": Wegen der großen Nachfrage gibt es das Mittagessen nicht mehr vom Foodtruck aus, sondern wird im Gemeindesaal der Auferstehungskirche ausgegeben. Mittlerweile sind es täglich 150 Mahlzeiten

Von Andrea Schlaier

Die tägliche Schlange ist über hundert Meter lang, beginnt kurz hinter St. Benedikt an der Schrenkstraße, führt durch den Garten des Kulturraums Kösķ, hinaus auf den Gehsteig und reicht bis weit in die Westendstraße. Menschen sitzen hier auf weißen und orangen Plastikstühlen, einer zwei Meter hinter dem andern, Männer, Frauen, Junge, Alte, frisch Frisierte, müd Zerzauste, Rucksäcke zwischen den Beinen, Einkaufswägelchen neben sich oder zusammengeraffte Plastiktüte in der Hand. Über die Sitze hinweg Sprachengewirr in diesem auf seine überdurchschnittlich vielen Nachbarn mit migrantischen Wurzeln stolzen Quartier. Wie bei der Reise nach Jerusalem erheben sich die Wartenden alle paar Minuten und rücken einen Sitz weiter. Immer dann, wenn einer den Kopf der Schlange verlässt, weil ihm dort Helfer mit selbst genähtem Mundschutz aus einem Kleintransporter in wärmeisolierten Boxen Sauerbraten mit Semmelknödel und Blaukraut, Knödelgröstl mit Ei oder andere frisch gekochte Speisen reichen. All das wurde kurz zuvor in der Küche der Augustiner Bräustuben zubereitet als Spende für die Anstehenden. So sieht es aus, wenn "Das Westend tafelt", täglich seit Karfreitag, jeden Mittag, 12 bis 14 Uhr, vom Foodtruck aus. Vergangenen Samstag zog die Kolonne der Hungrigen aus Platzgründen ein paar Ecken weiter in den Gemeindesaal der evangelischen Auferstehungskirche an der Geroltstraße.

"Was hier passiert ist doch eine ureigene Aufgabe christlicher Nächstenliebe", konstatiert Bernd Berger, Pfarrer der Auferstehungskirche, der aber gleich relativiert: "Wir haben uns hier nur angehängt und sind nicht Initiatoren." Hinter dem Projekt steht im Kern als Träger der Kreisjugendring München-Stadt mit seinen Kulturaktivistinnen aus dem Kösķ, zudem der Bezirksausschuss Schwanthalerhöhe und das alternative Wohnprojekt Ligsalz 8. Bei inzwischen 150 verteilten Mahlzeiten pro Tag sei es mit der nur einen Ausgabestelle vom Wagen herunter eng geworden, erzählt Sibylle Stöhr, die als Vorsitzende des Bezirksausschusses Mitinitiatorin ist. "Und Leute haben auch Hemmungen hierher zu gehen, wo sie auf der Straße stehen und von allen gesehen werden." Auch deshalb freue man sich über Bergers Angebot, künftig den Gemeindesaal zu nutzen, wo gleichzeitig mehrere Essen ausgegeben werden könnten. "Die Leute können von der Gollierstraße über den Innenhof rein gehen und hinten zur Kazmairstraße wieder raus. Bei Regen sind sie geschützt."

Die Schließung der dezentralen Lebensmittelausgabe der Tafel an der Schrenkstraße Mitte März war Anlass, bedürftigen Nachbarn zu helfen, erinnert Stöhr noch einmal. Dass die Hungrigen inzwischen auch aus der ganzen Stadt kommen, weiß sie. Einige seien darunter, die an der Theresienwiese übernachten, Obdachlose, Bedürftige. Aber eben auch vom Westend, wie die mittlerweile arbeitslose ehemalige Bankangestellte: "Mir bedeutet das viel hier; so teure Sachen wie Knödel und Sauerbraten kann ich mir sonst nicht leisten." Eine selbst ernannte "italienische Oma" trifft man an der Schrenkstraße genauso wie im evangelischen Gemeindesaal. Die zarte Frau mit den weißen Fäden im schwarzen Haar macht immer einen Abstecher auf dem Weg zu ihrer Tochter. "Ich komme, obwohl ich gar nicht in München wohne." Sie lächelt freundlich. Und verlegen. Neben ihr steht Ursula Kalb von der christlichen Gemeinschaft Sant' Egidio mit Sitz im Schwabinger Pfarrverband St. Sylvester. In ihrer Mensa gibt es seit Jahren jeden Samstag - zurzeit auch sonntags - Essen für Bedürftige, darunter viele, die vor Jahrzehnten als Gastarbeiter nach München gekommen sind. "Der Bedarf ist so groß, auch, weil jetzt noch die kleinen Verteilstellen der Tafeln zu sind." Viele Ältere wollten sich deshalb nicht in die U-Bahn setzen und zur zentralen Ausgabestelle an der Großmarkthalle fahren.

Die Schließung der Tafel im Westend, betrieben bei St. Benedikt von der Caritas und der Münchner Tafel, war überhaupt erst der Impuls für die Westendler mit ihrem Foodtruck Hilfe anzubieten. Der Hunger bleibt ja, auch wenn die Pandemie kommt. Und das Bedürfnis nach zumindest minimalem sozialen Kontakt. "Die ganzen Corona-Maßnahmen", kritisiert Sibylle Stöhr, "sind vielleicht für Wohlsituierte gut umsetzbar, aber nicht für Ärmere." Und langsam, so die Politikerin, "müssen die Wohlfahrtsverbände wieder Lösungen versuchen, so wir es tun."

Jasmin Hasiba ist bei der Caritas Stationsleiterin für die Tafel an der Ausgabe Schrenkstraße. "Bei uns sind donnerstags zu normalen Zeiten an die 130 Leute gekommen; es war so schon ein Gedränge, weil es einfach wahnsinnig eng ist." Als die Münchner Tafel am 20. März beschlossen habe, alle dezentralen Tafeln erst mal einzustellen, habe man gleich an alle Bedürftige der Station Einkaufsgutscheine per Post verschickt, drei mal zehn Euro für größere Familien, ein mal zehn Euro für Alleinstehende. Gleichzeitig könnten sie zur zentralen Ausgabe der Tafel an der Großmarkthalle. "Unsere Leute können hier donnerstags von 15.30 Uhr an Lebensmittel holen. Manche sind damit zufrieden", sagt Hasiba, "für viele, vor allem Ältere, kommt der weite Weg durch die Stadt gar nicht in Frage." An der Ausgabe des Foodtrucks direkt nebenan habe sie aber auch kaum bekannte Gesichter gesehen. "Ich würde bei uns lieber früher als später wieder die Lebensmittelausgabe aufmachen."

60 Prozent der Menschen, die sonst an den 27 Ausgabestellen über die Stadt verteilt Lebensmittel abholen, kämen zurzeit zur Großmarkthalle, sagt Angela Zacher von der Münchner Tafel. "Wir müssen garantieren, dass der Sicherheitsabstand gewahrt und Mundschutz getragen wird; das funktioniert an manchen kleinen Ausgabestellen einfach nicht." Viele der Helfer seien überdies älter, gehörten damit zur Risikogruppe und stünden nicht zur Verfügung. "Es ist angedacht, Mitte, Ende Mai in Pilotprojekten in einigen Stadtvierteln wieder zu starten. Wir sind froh, dann wieder aufmachen zu können." Sibylle Stöhr runzelt die Stirn: "Wir schaffen's doch auch." Zwei Wochen wolle man mindestens noch weitermachen. "Wir können die Leute jetzt nicht im Stich lassen."

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SZ vom 27.04.2020
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