SZ-Serie: Bühne? Frei!:Überleben mit Kunst

Werner Schmidbauer

Werner Schmidbauer, geboren 1961, ist Fernsehmoderator und Musiker. Zusammen mit Pippo Pollina und Martin Kälberer hat er zuletzt das Album "Süden II" veröffentlicht.

(Foto: Privat)

Kultur-Lockdown, Tag 139 (und Ende): Der Moderator, Musiker und Liedermacher fordert perspektivische Fantasie

Gastbeitrag von Werner Schmidbauer

"If you can't go outside, go inside". Dieser Satz eines indischen Yogameisters klang für mich nach einem idealen Motto für ein sinnerfülltes und unbeschadetes Durchleben des ersten Lockdowns. Unsere Süden-II-Tournee mit meinen Freunden Martin Kälberer und Pippo Pollina war nach einem Konzert am 11. März 2020 in Wien jäh abgewürgt worden. Doch immerhin hatten wir bis dahin fast hundert Konzerte gespielt. Die Tour durch vier Länder war intensiv, künstlerisch erfüllend, aber eben auch ungeheuer anstrengend gewesen. Ich war fast ein wenig erleichtert, dass nun Ruhe war. Vollbremsung. Von hundert auf null.

Ich war neugierig auf diese verordnete Ruhe und die Reise nach Innen. In den letzten zwei Jahren hatte ich jeweils den November in Indien verbracht, eine Panchakarma-Kur gemacht, Yoga, Meditation und die ayurwedische Kochkunst für mich entdeckt. Und jetzt plötzlich mitten im deutschen Alltag die Möglichkeit zur Entschleunigung, zum so oft ersehnten Nichtmehrfuntionierenmüssen. Vielleicht wäre ja sogar gesellschaftliche Werte-Korrektur möglich und denkbar ... Verklärung? Romantik eines Nichtbedürftigen? Mag sein, aber ich habe den ersten Lockdown tatsächlich genossen.

Im Sommer drehte ich bei gelockerten Beschränkungen sechs Gipfeltreffen für den BR, und von August bis Oktober waren sogar sechs Solo-Konzerte möglich, wenn auch unter stark einschränkenden Corona-Standards. Alles roch verdächtig nach "Glück g'habt" und schrittweiser Normalisierung. Im Herbst stiegen die Zahlen wieder. Ende Oktober kam der zweite Lockdown und mit ihm die sich langsam durchsetzende Gewissheit, dass es diesmal anders sein würde. Nochmal eine stille "Reise nach innen"? Nein. Der Lockdown hat diesen fast jungfräulich-romantischen Charme längst verloren.

Viele Künstlerkollegen haben während dieses einjährigen faktischen Berufsverbots längst ihre letzten privaten Spar-Groschen aufgebraucht und stehen nun faktisch vor einem finanziellen und kreativen Scherbenhaufen. Aber auch viele Menschen aus anderen Berufs- und Lebenswelten sind längst verzweifelt und nicht nur finanziell am Ende. Und gerade jetzt verblüffen mich die politischen, aber auch die wissenschaftlichen Entscheider durch immer offener zu Tage tretende fehlende perspektivische Fantasie im Umgang mit der Pandemie und ihren verheerenden gesellschaftlichen Folgen. Wir sind auf dem Weg, nicht nur unsere wirtschaftlichen Existenzen zu verlieren, sondern auch die gesellschaftliche Empathie füreinander und unseren Spaß an der Freud sowieso.

Genau deshalb fehlen uns Kunst und Kultur so fürchterlich. Wir brauchen sie zum seelischen Überleben genauso wie Wasser und Brot, und bestimmt mehr als Tui oder Amazon. "Wo die Kultur stirbt, beginnt die Barbarei", hat Heinrich Böll gesagt. Ich frage in einem aktualisierten Song von 2013: "Wo bleibt die Musik?"

Egal, wie lange und wie tief uns dieses Virus noch beschäftigt, lasst uns nicht vergessen, zu singen und zu spielen ... und von den von uns gewählten Entscheidern erwarte ich mir, dass sie sich trotz Wahlkampf endlich von ihrer autokratisch verkündenden Inzidenzhörigkeit verabschieden und endlich innovativ und kreativ denken und handeln ... und lasst uns Künstler baldmöglichst endlich wieder auf die Bühnen rauf und unsere systemrelevante Arbeit machen!

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