Süddeutsche Zeitung

Klassisches Spektakel:Klingt wie am Schnürchen

Pianist Alain Roche gibt Konzerte am "Piano Vertical". Im Werksviertel hängt er sich dazu drei Mal samt Klavier an einen Kran.

Von Rita Argauer

Klavierhocker haben im Normalfall keine Lehne. Wohl damit der jeweilige Klavierspieler in völliger Entfaltung auch körperlich seinem Spiel in sämtliche Richtungen Ausdruck verleihen kann. Wer also einen Klavierhocker mit Lehne wählt, hat entweder sowieso ein Faible für Beschränkungen wie etwa Glenn Gould, der auf seinem belehnten Höckerchen fast nur Bach spielte und das auch fast nur im Studio und seit 1964 bis zu seinem Tod überhaupt nie wieder live im Konzertsaal. Oder aber er braucht die Beschränkung aus anderen Gründen.

Ziemlich stabil muss in diesem Fall die Lehne von Alain Roches Klavierhocker sein, muss diese doch gleich das gesamte Gewicht des Pianisten tragen. Denn der Musiker aus der französischen Schweiz beschränkt sich weniger im metaphysisch-künstlerischen Sinn, sondern ganz real, in dem er sich samt Flügel vertikal von einem Kran hängen lässt.

Warum? "Das Klavier in die Vertikale zu drehen und darauf zu spielen, spiegelt meine Lust daran, allgemein gültige Vorstellungen zu verfälschen und einen anderen Blick auf das Alltägliche zu werfen", sagt der Pianist und Komponist, der an der Genfer Musikschule für aktuelle Musik "ETM" gelernt hat. Er habe sich schon länger mit den Fragen der Schwerkraft beschäftigt, einer Sache, die gemeinhin als selbstverständlich wahrgenommen werde. Diese Selbstverständlichkeiten wolle er jedoch infrage stellen. Sehr gut funktioniere diese Hinterfragung des Alltags, wenn man nicht mehr auf einer horizontalen, sondern einer vertikalen Klaviatur spiele. Klar, Hirn, Finger, Perspektive, alles wird erst einmal verdreht, da kommen einem bestimmt grundsätzlich andere Gedanken.

Das Ganze dann in die Luft zu heben, das sei für Roche jedoch der eigentliche "poetische Akt". Im Jahr 2010 hatte er die Idee dazu. Seit 2013 fanden mehr als 120 Klavieraufhängungen unter dem Namen "Les ciels" (Die Himmel) in verschiedenen Ländern wie der Schweiz, Luxemburg, Frankreich, Österreich oder China statt. Der Schweizer Klavierbauer Fernand Kummer hatte einen Spezialflügel nach Roches Vorstellungen gebaut. Eine neue Mechanik musste dafür her, damit die Hämmer die Saiten auch in der Vertikalen ordentlich treffen können.

Auf seiner Homepage hat Alain Roche ein dreiminütiges Zeichentrickvideo veröffentlicht. Darin inszeniert er das vom Himmel hängende Klavier als einen Einbruch des Surrealen in den grauen Alltag - Magie, die zum Träumen einlädt. So einfach und eben auch ein wenig kitschig ist seine Grundprämisse. So ähnlich klingt dann auch die Musik: über Achtelnote um Achtelnote laufende Klavierperlen, harmonisch einprägsam und ohne große Brüche.

Doch man muss dieses hängende Klavier als Gesamtkunstwerk betrachten. Es geht nicht darum, die Musik neu zu erfinden oder musikalisch besonders breit gefächerte Panoramen aufzumachen. Die Musik ist wie ein leichter Soundtrack zu dem Bild, das eben eher einer Traumlogik folgt als der Realität. Angst, dass das Spektakel der Musik den Fokus nimmt, hat Alain Roche dabei nicht. Das Spektakel ist Teil seiner Musik. Außerdem bekommt das Publikum Kopfhörer; die Klavierklänge werden also abseits des Alltaglärms direkt zu ihrem Publikum übertragen.

So irre viel Alltag wird nun bei der München-Premiere sowieso noch nicht zu erleben sein. Im Werksviertel, nahe der zukünftigen Konzertsaal-Baustelle, tritt Roche mit dem etwas modifizierten Programm "Chantiers" (Baustellen) auf. Dabei wird der Flügel über Baustellen aufgehängt und ausschließlich in der Dreiviertelstunde vor Sonnenaufgang bespielt. Diese Tageszeit, die "heure bleue", sei integraler Bestandteil des Projekts; die blaue Stunde also, die im Deutschen auch den etwas weniger schönklingenden Namen "Morgengrauen" trägt (was aber eher von der Farbe Grau kommt als von den anstehenden Grauenhaftigkeiten des neuen Tages). Diese Tageszeit sei für Roche "magisch und elektrisierend", sei eine "unerschöpfliche künstlerische Nahrung" für ihn.

Die Beschränkung ist bei Roche also nichts Verstörendes und Aufrührendes wie oft in der Performance Art, etwa bei Marina Abramovic. Auch wenn die Spieldauer durch die verdrehten Umstände limitiert ist. Länger als eine Stunde am Stück geht es nicht. Doch: "Das vertikale Klavierspielen gehört zu meiner täglichen Praxis", sagt Roche. Zu Hause habe er tatsächlich ein hängendes Klavier. Allerdings hängt er da nur zehn Zentimeter über dem Boden.

Alain Roche: Chantiers, Freitag, 24., bis Sonntag, 26. Januar, jeweils um 6.45 Uhr, Atelierstraße 18

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SZ vom 23.01.2020/sim
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