Luca Neuberger gibt sich keinen Illusionen hin, fährt mit dem feuerfesten Handschuh einmal durch seine heißen Maroni, reicht einer Familie eine Papiertüte mit 15 Stück zu fünf Euro unterm Plexiglasschutz hindurch und sinniert ein bisschen. "Weihnachtlich ist hier gar nix!", sagt er. Der Stand seines Vaters ist in etwa das, was vom Münchner Christkindlmarkt noch übrig bleiben durfte.
Direkt an der Ecke vom Marienplatz zur Kaufingerstraße steht der grüne Stand, weiter hinten in der Fußgängerzone gibt es noch einen. Sonst liest man ja oft auf Lebensmittelverpackungen, dass etwas noch "Spuren von Nüssen enthalten kann". Tja, München enthält diesmal nur noch Spuren von Christkindlmarkt. Also alles ein bisschen deprimierend? Nein, sagt Luca Neuberger in seiner jugendlichen Frische, das nun auch wieder nicht. Vor einem Jahr, als die Geschäfte zwischen "offen" und "Lockdown" hin und her pendelten, sei die Münchner Innenstadt "eine Geisterstadt" gewesen. Das ist sie an diesem Samstag nicht.
Im Gegenteil. Vor Dallmayr und Manufactum stehen die Menschen in der Kälte an, wie auch in der Kaufingerstraße. Dort artet der Einkaufsbummel in stressige Lückensuche aus, weil es wegen der strikten Einlasskontrollen richtig lange Menschenschlangen quer zur Fußgängerzone gibt. Nicht überall lassen Menschen Lücken, und so entsteht ständig Unruhe und Hektik. Kaum Zeit also, um die adventliche Deko vieler Kaufhäuser und Geschäfte in Ruhe zu bewundern. Auch von den vielen fensterhohen Deko-Kerzen, die den "Hirmer" außen schmücken, nimmt kaum jemand Notiz.
Wo auf dem Marienplatz sonst Glühweinstände und Buden mit Kunsthandwerk dominieren, machen sich an diesem Samstagmittag Impfgegner breit mit einer lauten Kundgebung. Tonlage: nicht sehr weihnachtlich. "Querdenken tötet" haben stille Gegendemonstranten auf ihre Tafeln geschrieben. Zur tristen Szenerie passt der große Weihnachtsbaum vorm Münchner Rathaus, der zwar geschmückt ist, aber irgendwie arg zerzaust aussieht. Nicht persönlich nehmen, lieber Landkreis Weilheim-Schongau - auch ein Baum in Bestform hätte hier die Stimmung nicht gerettet.
"Alles kostet was, mir samma nicht da wegen der Langeweile!"
Wenige hundert Meter weiter bietet der Rotary-Club München-Residenz dann zwei Frauen und sieben Männer in roten Weihnachtsmann-Kostümen und mit weißen Rauschebärten auf. Die drehen Benefiz-Fahrradrunden auf dem Max-Joseph-Platz. Michael Kochs Idee funktioniert bei dieser Premiere: Passanten lieben es, sich mit den neun roten Radlern vorm Nationaltheater ablichten zu lassen. Und Johannes Viereck liebt es, sie dann charmant darauf hinzuweisen, dass man auch einen Obulus dafür geben darf, zum Nutzen benachteiligter Kinder in München sowie eines Frauen-Sozialprojektes. Familien stoppen, Kinderaugen leuchten, Alt und Jung rühren begeistert die Glocke als Startzeichen für die Radlrunden.
"Des kloane Tannenzweigerl, kost' des wos?", fragt eine ältere Dame auf dem Viktualienmarkt, gleich neben dem Liesl-Karlstadt-Brunnen. Die Antwort des Standlmanns fällt schroff aus: "Alles kostet was, mir samma nicht da wegen der Langeweile!" Ein Euro fürs Zweigerl, und ein Minus für die Weihnachtsstimmung. Aber der Mann begründet seine Haltung: Ohne Christkindlmarkt fehlten so viele Kunden in der Innenstadt, da müsse er schauen, wo er bleibe. Das nimmt der "Stollen-Franze" gelassener, der gleich ums Eck am Markt-Biergarten seine Stollen-Spezialitäten verkauft. Dieser Zweitstand rettet ihn ebenso wie einige Münchner Großfirmen, die statt ausgefallener Weihnachtsfeiern noch größere Stollen-Mengen bei ihm orderten. Unterm Jahr verkauft der Franze Stey Strumpfwaren, aber auf die vier Wochen, in denen er "ein bisserl Weihnachten in die Stadt bringt", freut er sich. Bei ihm hätte es das Tannenzweigerl wohl gratis gegeben.
Trotzdem. In der Innenstadt fehlt der Glühweinduft. Das macht alles ein bisserl seelenlos. Draußen in der südlichen Stadt, auf dem Thalkirchner Platz, verkaufen Simon Karrer und Nils Eberler Christbäume. Damit's zu jedem verkauften Baum einen Gratis-Glühwein geben kann, hat Tobias Steichele ("Gelatobi") seinen Pavillon an diesem Wochenende offen. Lebkuchen und Glühwein, und bei Nils und Simon fürs Fest ein Bio-Tannenbäumchen mit Wurzelballen im Eimer "ausleihen", das ist immerhin ein bisserl weihnachtlich. Das mit dem Ausleihen ist übrigens relativ: Die Bäume werden normal verkauft, dürfen aber nach Neujahr zurückgegeben werden an einem bestimmten Tag. Die würden dann am Tegernsee in einen "Gnadenacker" eingepflanzt, versichert Eberler. Und nicht wieder ausgegraben.
Klingt nach Friede und Freude, und das gehört ja zum natürlichen Zuständigkeitsbereich der Kirche, zum Beispiel der evangelischen Christuskirche Neuhausen. Die bietet "Lieferandachten", bei denen Pfarrerin Steffi Wist hinten auf einem Pickup gemeinsam mit Diakonin Lisanna Täschlein und Kirchenmusiker Andreas Hantke singt und betet. 50 Zuhörerinnen und Zuhörer finden sich am Sonntagmorgen am Dom-Pedro-Platz ein, singen draußen vor der Christuskirche Weihnachtslieder, teils im Kanon, und hören mal, wie satt laut die Turmglocken sind, wenn man nicht drinnen im Kirchengestühl sitzt. "Wir bringen ein bisschen Licht", also ein Symbol für Liebe und Wärme, sagt Steffi Wist und strahlt trotz der Kälte, weil ihr kreatives Konzept aufgeht. In einer Laterne leuchtet eine Kerze, und außen an der Kirchenfassade hängen ein kleines und ein großes Engelsflügelpaar. "Für Engel-Grußfotos an die Lieben", sagt Wist.
Weihnachten ist heuer weniger am Glühweinstand. Und mehr in den Herzen.