Demografie:München und sein Wachstumsschmerz

Protest gegen Wohnungsnot in München, 1952

München 1952: Ein Vertriebener aus dem Sudetenland protestiert an seiner selbstgebauten Baracke in der Schellingstraße gegen die Wohnungsnot in der Stadt. Die eine Wand seiner Unterkunft bildet ein Holzstapel, während die übrigen aus Kisten, Decken und Blech bestehen.

(Foto: AP)

Die Bevölkerung wächst - das scheint nicht ohne Klagen zu funktionieren. Aber wenn gefordert wird, dass München wieder München werden soll, stellt sich die Frage: Welche Stadt ist da gemeint?

Von Anna Hoben

Man hat ja irgendwo in seinem Kopf dieses Bild von München als Hauptstadt der Gemütlichkeit. Die Erfindung der Gemütlichkeit muss sich irgendwann in der Zeit von Fernsehserien wie Helmut Dietls Münchner Geschichten (1974) oder Monaco Franze (1981 bis 1983) zugetragen haben; auch in der BR-Produktion Die Hausmeisterin etwas später (1987 bis 1992) geht es noch reichlich beschaulich zu.

Zum Leben in München gehört es wohl, sich von Zeit zu Zeit in diese Vergangenheit zurückzusehnen, auch wenn man sie gar nicht kennt - immer dann, wenn man akut am Münchensyndrom leidet, das sich auch als "die unerträgliche Beschwerlichkeit des Seins" umschreiben lässt: der Schmerz darüber, dass es immer voller wird in dieser Stadt, immer enger, immer stressiger.

Fünf Monate vor der Kommunalwahl bestimmen die Wachstumsschmerzen in München die politische Agenda. Die CSU geht mit dem Slogan "Wieder München werden" in den Wahlkampf. Eine neue "München-Liste", die ebenfalls im März 2020 antreten will, basiert gar nur auf dem Thema Wachstum. Vertreter verschiedener Bürgerinitiativen haben sich darin zusammengeschlossen. Am liebsten würden sie das Wachstum gleich ganz stoppen, zumindest aber begrenzen und steuern: weniger Unternehmen und weniger Menschen nach München kommen lassen.

Demografie: Eine wachsende Bevölkerung bedeutet auch, dass mehr gebaut werden muss - wie hier am Memminger Platz in Moosach.

Eine wachsende Bevölkerung bedeutet auch, dass mehr gebaut werden muss - wie hier am Memminger Platz in Moosach.

(Foto: Claus Schunk)

Die Wachstumsschmerzen sind in München oft formuliert worden. Wenn gefordert wird, dass München wieder München werden soll, stellt sich als erstes die Frage: Welches München soll München denn wieder werden? Vermutlich meint die CSU nicht das München von 1782, als die Stadt noch keine 40 000 Einwohner zählte. Schon damals vertrat der bayerische Geschichtsschreiber Lorenz von Westenrieder die Auffassung, eine Zunahme der Bevölkerung könne seiner Stadt "Nachteile und Schaden" bringen: Lebensmittel würden teurer werden, die "Moralität" sänke auf eine tiefere Stufe ab. Zudem würde das Verbrechertum "über alle Maßen" wachsen. Und sein Zeitgenosse Josef Burgholzer meinte: "München in Bayern würde mit 150 000 Seelen das sein, was Paris in Frankreich und London in England ist." Paris und London - wenn diese Vergleiche in München gezogen werden, sind sie selten positiv gemeint.

Die Besorgnis über eine zu schnell wachsende Stadt war auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Viele Stadtbewohner tippten sich an die Stirn, wenn der Name König Ludwig I. fiel: Jetzt wolle er auch noch eine ganz breite, schnurgerade Straße hinaus zum "Millibauerndorf Schwabing" führen - die heutige Ludwig- und Leopoldstraße.

Sprung in die Nachkriegszeit, knapp 150 Jahre später. Die Hälfte des Baubestands ist vernichtet, jetzt geht es um den Wiederaufbau. Wachstum wird noch nicht als Bedrohung gesehen, der städtische Wiederaufbaureferent findet: "Eine dauernde Beschränkung der Zuwanderung würde den Lebensnerv der Stadt abschneiden." München ist eine der beliebtesten Städte für Zuzügler. Selbst die Kriegsgefangenen aus allen Teilen Deutschlands meldeten sich bei ihrer Entlassung "wahllos nach München", berichtet Oberbürgermeister Thomas Wimmer. Auch über Hochhäuser wird diskutiert. "Für unsere Stadt ist das vierstöckige Gebäude das Gegebene, aber nicht das Hochhaus, schon aus Gründen der Rentabilität", fasst die SZ eine politische Debatte darüber zusammen.

In den Fünfzigerjahren kommt die Wachstumsdebatte in Schwung. Hatte München 1935 noch 765 000 Einwohner, waren es knapp zwei Jahrzehnte später 910 000. Anfang 1952 stellt die Bayernpartei, damals zahlreich in den Kommunalparlamenten vertreten, einen Antrag auf eine Zuzugsbeschränkung. "In München leben jetzt 250 000 Menschen, die vor 1945 niemals (oder höchstens besuchsweise) in unserer Stadt waren", meldet die SZ.

1954 schwankt der Autor eines "Streiflichts" zwischen Sorge und Zuversicht: "Woher aber kommen die Münchner? Aus München jedenfalls nur zum kleinen und immer kleiner werdenden Teil. (...) Es ist die Stadt, die sich allmählich verändert. Damit meinen wir nicht die Veränderungen in ihrem Stadtbild, sondern in ihrem Rhythmus, ihrem öffentlichen Leben, im Charakter ihrer Vergnügungen und Zerstreuungen, in ihrem Geschmack, ihrer Wohnkultur (...), im Essen und Trinken, und nicht zuletzt in ihrer Sprache. (...) Die Münchner haben sich viel schneller daran gewöhnt, dass sie neuerdings in einer wirklichen Großstadt wohnen, als das Rathaus." Angesichts des Wachstums müssten vor allem Verkehrsmittel und -wege komplett umgebaut werden: "Heute ist München wie ein kleiner Topf, aus dem die Milch fortwährend überkocht. Der Topf muss nun durch einen größeren ersetzt werden. Anderswo geht das auch, zum Beispiel in Frankfurt."

Geradezu "erschreckend" seien die Zukunftsvisionen

Dass München eines Tages eine Millionenstadt sein wird, ist nun unbestritten. Und auch, dass München anders ist als früher. "Das neue Gesicht unserer Stadt", titelt die Abendzeitung (AZ) im Jahr 1960. "Die Internationalisierung unserer Stadt wird auch deutlich, wenn wir uns die ausländischen Restaurants ansehen. Allein 5 italienische und 4 chinesische Restaurants gibt es heute in München, 3 Balkanrestaurants, je 1 spanisches, türkisches, französisches, ungarisches Restaurant." Zum Vergleich: Heute sind es nahezu 500 italienische Lokale. Fazit der AZ damals: "Die Stadt hat sich gewandelt - es bleibt kein Platz mehr für Beschaulichkeit."

Allein im Jahr 1961 wächst München um 34 500 Menschen. "Würde der Zustrom weiterhin in dem Maße anhalten, so müsste man im Jahre 1975 mit 1,6 Millionen Münchnern rechnen", schreibt die SZ ein Jahr darauf. "1990 wäre die bayerische Metropole schon von 2,2 Millionen Menschen übervölkert." Geradezu "erschreckend" seien die Zukunftsvisionen auf dem Gebiet der Motorisierung: Habe es in München Ende 1961 rund 170 000 Autos gegeben, also 152 je 1000 Einwohner, würden es nach Prognosen im Jahr 1990 wohl 300 je 1000 Einwohner sein. (Heute sind es 460 pro 1000 Einwohner.) 1968 meldet die SZ, dass München nun an 53. Stelle unter den 68 Millionenstädten der Welt liege, "hinter Haiderabad (Indien) und Kobe (Japan) und vor Neapel und Houston (Texas)". Innerhalb eines Jahrzehnts sei die Stadt um eine Viertelmillion Einwohner gewachsen, auf 1,26 Millionen.

Im selben Jahr berichtet die AZ über eine mysteriöse Plakataktion einer "Organisation zur Bekämpfung von Zivilisationsschäden e.V.", die "im Untergrund arbeite", sich "gegen die Aufblähung Münchens" ins Umland richte und auf zwei Meter hohen Plakaten vor einer "Lawine, die von München ausgehend das bayerische Oberland überrollt".

1969 warnt der Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel vor den explodierenden Bodenpreisen. Seit 1963 gibt es einen Stadtentwicklungsplan - die Entwicklung der Stadt soll nicht sich selbst überlassen werden. OB Vogel will in die Planungen fortan die ganze Region einbeziehen. "Erstickt München an seiner Dynamik?", fragt die SZ, 1970 überschreibt sie einen Bericht über eine Wachstumsdiskussion so: "Die Traumstadt wird zum Alptraum".

Die Politiker hätten versucht, das "typisch Münchnerische" zu definieren, das die Menschen so verliebt in die Stadt an der Isar mache und nun drohe verloren zu gehen. "Man muss ja schließlich wissen, was geschützt und was erhalten werden will, wenn man die Münchner Stadt vor dem Schicksal bewahren will, Allerwelts-Millionenstadt zu werden." Die Stadt wachse zu schnell, wird ein Staatssekretär der CSU zitiert, "deshalb muss sie zwangsläufig das Münchnerische verlieren".

Klingt vertraut? Wenn man sich durch die Münchner Presse jener Jahre wühlt, die aus heutiger Sicht wohl die gute, alte, gemütliche Zeit darstellen, stellt man fest, dass die Sorgen und Klagen damals oft exakt die gleichen waren wie heute. An den Formulierungen würde man in vielen Fällen wahrscheinlich nicht einmal erkennen, ob ein Politikerzitat heute oder vor einem halben Jahrhundert gesagt wurde.

Anfang der Siebzigerjahre wird die Rhetorik düsterer. Zum Stadtgeburtstag 1971 stellt Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel in einer Rede die Frage, ob die Zukunft Münchens gesichert sei. München sei gegen eine Entwicklung wie etwa in New York nicht gefeit. "Auch Städte können sterben oder zumindest ihr Wesen so verändern, dass sie nicht mehr Orte des Friedens, des Wohlbefindens, des erfüllten Lebens sind, sondern sich in steinerne Dschungel verwandeln, in denen Gewalt, Hass, Verderben und Untergang herrschen." Stadtbaurat Uli Zech sieht München 1972 "an der Wende zum Untergang". Man müsse das Wachstum bremsen und Entlastungszentren schaffen.

Demografie: München heute: Vor dem Kreisverwaltungsreferat bilden sich immer wieder lange Warteschlangen.

München heute: Vor dem Kreisverwaltungsreferat bilden sich immer wieder lange Warteschlangen.

(Foto: Robert Haas)

Karl Ganser, Leiter der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung und zuvor im Münchner Stadtentwicklungsreferat tätig, fordert einen "Abbau des irrealen Fremdenimages Münchens, betrieben durch Olympiade, Messewesen und Fremdenverkehrspropaganda, stattdessen reale Informationspolitik über die tatsächlichen Lebensverhältnisse im Raum München". Die SZ fordert "Augenmaß für eine Stadt": "Das Schlüsselwort heißt: Wachstumsbremse. So attraktiv München als Fremdenverkehrsstadt bleiben soll - für Menschen also, die kommen und wieder gehen - so wenig Anlass besteht, die Stadt als weiteres Zuzugsgebiet für die Industrie attraktiv zu halten.

Der Preis für weiteren Wachstumsgewinn wäre der entsprechende Verlust an Lebensqualität, weil uns die Folgelasten über den Kopf wüchsen." Hatte OB Vogel ein paar Jahre zuvor noch von einer Superstadt Groß-München geträumt, so rudert sein Nachfolger Georg Kronawitter nun zurück. Die Stadt müsse sich räumlich vom Umland abgrenzen. Später sorgt seine "Dampfkesseltheorie" weit über die Stadtgrenzen hinaus für Aufmerksamkeit: Immer mehr Häuser, immer stärkere Nachverdichtung - all das bedrohe nicht nur das Grün, sondern sorge auch für mehr Verkehr in der Stadt. Die Lebensqualität gehe verloren. "Genug gebaggert, in München sollen wieder Blumen blühen!"

In Kronawitters erster Amtszeit entstehen aber auch 60 000 Wohnungen. 1982 prognostiziert die Stadt, dass in spätestens zehn Jahren die verfügbaren Baulandreserven erschöpft sein würden. 1988 plädiert Kronawitter in einer Pressekonferenz für eine "behutsame Weiterentwicklung" der Stadt, denn die Weltmetropolen, die er gesehen habe, seien abschreckend. In Paris etwa könne man nur noch arbeiten oder sich vergnügen. Am 4. November 1989 titelt die AZ: "Das deutsche Paradies stößt an seine Grenzen" - damit ist München gemeint. Die Stadt sei eben alles: "Millionendorf und sündhaft teure Weltstadt. Barock, Biergarten und horrende Bodenpreise kann man in einem Atemzug nennen. (...) München stößt an seine Grenzen, zum ersten Mal in seiner Geschichte."

Dieses erste Mal, es hat sich oft wiederholt in der Geschichte Münchens. Aber mit den Klagen über das Wachstum der Stadt ist es wohl so wie mit den Beschwerden über die "Jugend von heute". Sie sind uralt. Und sie kehren verlässlich wieder.

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