Liedermacher:Der Gstanzl-Schmied aus Giesing

Lesezeit: 8 Min.

Otto Göttler - einer, der sich nie verbiegen ließ. (Foto: Catherina Hess)

Otto Göttler hat den "Bairisch Diatonischen Jodelwahnsinn" gegründet. Heute ist er solo oder mit den "Diatoniks" auf der Bühne. Sein urbayerisches Anarcho-Talent pflegt er noch immer.

Von Wolfgang Görl

Bis zu diesem Moment hat Otto Göttler Lieder gesungen, in denen der Humor seine Kraft entfaltete, auch wenn der Grant als Hintergrundrauschen vernehmbar war. Lieder wie der "Obergiasinger Trambahnblues", in dem es heißt: "Den ganzn Scheiß mach i ned mit, weil i ziemlich zwider bin." Oder der Untergiasinger Grantlerblues, dessen Held zum Lachen in den Keller geht. Jetzt aber die Zugabe. Und da wird es ernst. Richtig ernst. Ein düsterer Mollakkord, und dann singt Göttler von Menschen, in deren Inneren ein Räuber, ein Mörder, ein Vergewaltiger, ein Verrückter steckt. Wohin mit den Trieben, die sie plagen? Göttler weiß es: "A Kriag, a Kriag, du brauchst an Kriag, und da Kriag braucht an solchan wia di."

Und auf einmal ist es, als zöge eine dunkle Wolke durch den Raum, ein plötzlicher Kälteeinbruch, der das eben noch fröhlich gestimmte Publikum frösteln lässt. Der Krieg. Er ist ja nahe. Nur etwa 1500 Kilometer entfernt, in der Ukraine. Jeder im Publikum spürt: Das ist verdammt aktuell, was der Mann vorträgt. Dabei hatte Göttler, als er den Song mit dem Liedermacher Sepp Raith vor etlichen Jahren schrieb, einen anderen Krieg im Sinn gehabt. Es ging um den Aufstand der Ober- und Unterländer gegen die Habsburger Besatzungstruppen, der in der "Sendlinger Mordweihnacht" 1705 ein blutiges Ende nahm.

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Lange hält die Beklemmung nicht an. Göttler selbst steigt nach dem Schlussapplaus schon wieder gut gelaunt von der Bühne, auf der in der folgenden Stunde die Kabarettistin Claudia Pichler und der Liedermacher Weiherer das Publikum mit komischen Mitteln bedienen. Währenddessen genießt Göttler sein Feierabendbier, rund eine halbe Stunde hatte sein Auftritt im "Café Gräfelfinger" gedauert. Seiner Quetschn, nein, diatonische Ziehharmonika sollte man besser sagen, hat er Gstanzltöne mit gelegentlicher Bluesfärbung entlockt, zwischendurch erzählte er Schnurren aus seiner Vergangenheit, pointensicher und selbstironisch, und wie er so dastand, graubärtig, grüne Schirmmütze, Jeans, blitzte der Gedanke auf, dies könnte auch ein Protestsänger der 1960er Jahre sein, einer wie Pete Seeger, der ewig linke US-amerikanische Folkie, Gott hab ihn selig.

Allerdings, Göttlers Musik klingt etwas anders. Und überhaupt ist so ein Soloauftritt nur eine von vielen Erscheinungsformen, in der dieser Multi-Instrumentalist, Humorist und Kabarettist unterwegs war und ist. Sein bis heute erfolgreichstes Projekt war der Bairisch Diatonische Jodelwahnsinn, eine anarchobayerische Band, die das traditionelle volksmusikalische Material einer extremen Frischzellenkur unterzog und deren auffälligstes Mitglied Monika Drasch war, die Frau mit den roten Haaren und der grünen Geige.

Göttler wohnt am Ammersee und besitzt einen Probenraum in einer ehemaligen Milchsammelstelle. (Foto: Catherina Hess)

Giesing, den Ort seiner Mensch- und Musikerwerdung, hat Göttler längst verlassen, er lebt am Ammersee. Dort befindet sich auch sein Proberaum, der gut getarnt ist. Ein kleines Häuschen, rote Fensterläden, Ziegeldach, dazu eine Holztreppe zur Eingangstür, über der in altertümlicher Schrift steht: "Milchsammelstelle". Tatsächlich haben in alten Zeiten die Bauern dorthin ihre Milch gebracht. Heute füllen den kargen, mit Dielen ausgelegten Innenraum Trompete, Alphorn, Ukulele, Banjo, Pauke, eine zur E-Gitarre umgewandelte Bratpfanne und vieles mehr. Irgendwo wellt sich ein Plakat, dessen Fluidum einem archäologischen Fund aus der Antike gleicht. "Zukunfts-Musik" steht drauf. Und darunter: "Oskar Lafontaine, Otto Schily. Festzelt an der B 304 Haar." Für die Zukunftsmusik war der Bairisch Diatonische Jodelwahnsinn zuständig, den die SPD für ihre Wahlveranstaltung am 12. November 1990 engagiert hatte. Verdammt lang her.

Mit Sepp Raith und Wolfram Kunkel spielte Göttler "Bluadige Zeiten". Lieder zum Aufstand der Oberländer im Jahre 1705. (Foto: Catherina Hess)

Otto Göttler hat es sich am Küchentisch im Proberaum bequem gemacht, im Holzofen lodern Flammen, es gibt Kaffee und Gebäck. Und klar, er hat seine Mütze auf, vielleicht ist sie festgewachsen. Egal, reden wir von alten Zeiten. Wann und wo geboren? "Giasing, 1948", meldet er. "Mei, i war halt a Nachkriagskind, d'Eltern ham g'arbat alle zwoa, die san um siebne abends hoamkemma." Sie wohnten in einem Mietshaus an der Tegernseer Landstraße, der Vater belieferte Tante-Emma-Läden auf dem Land mit Süßwaren, und die Mutter arbeitete im Kaufhaus Hertie im Rechnungsbüro. Und der kleine Otto? "I hob a Superlebn g'habt, weil i hob macha kenna, was i meng hob."

Seine "Ziach" hat er immer dabei. (Foto: Catherina Hess)

Die Straßen waren staubig, Sand und Schotter waren der Giesinger Asphalt. Dort spielten die Buben Schusser, und wenn, selten genug, ein Auto kam und hupte, sprangen sie beiseite. Oder sie stürmten die Hinterhöfe, "da hamma Fußboi g'spuit Tag und Nacht". "Hundsbuam" und "A Ruah jetzt!", hallte es aus den Fenstern. Alle waren Löwenfans, die Alten und die Jungen, Ehrensache in Giesing. Der Nachwuchskicker Otto hat dann auch bei 1860 in der Jugend gespielt.

Aber Otto hatte noch eine zweite Leidenschaft, und die war stärker: Radfahren. Nicht gemütlich durch die Stadt, sondern im größtmöglichen Tempo auf Rennbahn und Straße. "I hab ma aus lauter Gebrauchtteilen a Rennradl zsammbaut, und dann war's eigentlich aus mitm Fußboispuin." Für etliche Vereine ist er in die Pedale getreten, für den RC 02 München, für Sturmvogel, für Amor 07 und im reiferen Alter für RC Weiß-Blau.

Göttler war ein Crack auf dem Rad. Er war deutscher Jugendmeister im Vierer-Mannschaftsfahren, auch bayerischer Meister und inoffizieller Europameister. Ohne regelmäßiges Training ging das nicht, 200 Kilometer am Tag waren obligatorisch. Aber das schaffte er locker, Muskelkater und Schweiß waren nun mal der Preis der Liebe. "Als i damals mei ersts richtigs Rennradl kriagt hab, hätt i's am liabsten ins Bett mitgnomma." Warum also nicht Profi werden? Der Gedanke spukte in seinem Kopf herum. Er hat ihn verworfen, aus guten Gründen. "Es is a brutal hartes Gschäft." Zu brutal für einen wie Göttler.

Außerdem waren da noch andere Dinge, um die er sich kümmern musste. Der Vater war gestorben, was sollte aus dem Süßwarengeschäft werden? Sohn Otto sah sich in der Pflicht. Er übernahm den Laden in Giesing, wo Pralinen, Schokolade, Rumkugeln oder Marzipan auf Käufer warteten. Die aber wurden immer rarer. Göttler lockte mit neuen Genussmitteln. "I hab dann a Weinhandlung g'macht mit ganz feinen Süßwaren und über 300 Sorten Spirituosen. Wann an Barkeeper in München irgendwas ausganga is, dann is a zu mia kemma, und i habs g'habt."

Er war Fußballer, Radrennfahrer, Weinhändler - und dann entdeckte er die Musik

Moment mal: Fußballer, Radrennfahrer, Weinhändler - aber ist Göttler nicht eigentlich Musiker? Ja, schon. Aber ein Spätberufener. Nur ein wenig Mundharmonika hat er als Kind gespielt, Schlager "und Volksmusik, die hat mi scho sehr begeistert." Die hörte er im Radio, aus einem alten Wehrmachtsempfänger dröhnend, den der Vater aus dem Krieg mitgebracht hatte. Offenbar musste Göttlers musikalisches Erbgut so lange reifen wie die besten Weine in seinem Sortiment. Eines Tages aber ploppte der Korken auf: "I war 32 Jahr, da hab i zu meiner damaligen Frau gsagt, i geh jetzt in d'Stadt und kauf ma a Zither." Einfach so. Und weil ihm Zitherklänge gefielen. Im "Zitherstüberl" in der Bräuhausstraße holte er sich so ein Ding, und einen Lehrer fand er auch. Der sah aus "wia a ogschossener Wuiderer" und verplemperte den größten Teil der Stunde mit dem Stimmen der Saiten. Später rekrutierte Göttler einen Lehrer, der extra aus Tirol anreiste. "Bei dem hat ma was glernt".

Dennoch ging es zäh voran, Zither ist ein Instrument, das Hände und Hirn zu verwirrenden Aktivitäten nötigt. Ein Geduldsakrobat ist Göttler nicht, also kaufte er sich eine steirische Harmonika, die schnellere Erfolge versprach. Der Lehrer war ein kluger Mann, der nach dem Prinzip unterrichtete: Was nicht klappt, weglassen. "Spui einfach!" Das leuchtete ein. "I hab dann eisenhart g'übt. Jede freie Minute."

Eine der Kneipen, die Göttler mit Wein belieferte, war die Liederbühne Robinson im Dreimühlenviertel. Als mal wieder eine Band ihren Auftritt abgesagt hatte, fragte Rosi, die Wirtin, ihren Weinhändler, ob er nicht einspringen könnte. Ja, schon. In der folgenden Nacht überfielen ihn Angst und Lampenfieber. "I bin lang ned eigschlafn." Dann der Auftritt, es half ja nichts. Wenigstens war ein Spezi dabei, der eine geliehene Gitarre spielte, auf der eingeritzt stand: "Jesus liebt auch dich." Die zwei brachten allerlei Kritisches zu Gehör, unter anderem ein Lied über die Atomkatastrophe in Tschernobyl. Zehn Mark betrug die Gage. Aber für jeden.

Die Besetzung im Bairisch Diatonischen Jodelwahnsinn wechselte, der Anarcho-Sound blieb. 2019 spielte Göttler in neuer Formation mit Geli Huber an der Harfe und Tobias Andrelang am Bass. (Foto: Veranstalter)

Allmählich wurde Göttler so gut, dass er in allen möglichen Formationen und zu allen möglichen Anlässen mitspielen konnte. "Mei, i hab gmerkt, de Leit gfoits ganz guad, und da hab i dann den Jodelwahnsinn gegründet." Um das Jahr 1986 war das, die Zeit, in welcher der Kampf um die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf tobte und die Polizei es für geboten hielt, Demonstranten mit Knüppeln und Tränengas zu traktieren. "Die bayerischen Politiker ham se aufgführt, des war a Katastrophe. Da hamma gsagt: Des is zum Jodeln." Und weil das alles sowieso Wahnsinn war, ersann Göttler den Namen Bairisch Diatonischer Jodelwahnsinn für seine neue Band.

Die Mitglieder wechselten laufend, mal weil es Ärger gab, mal weil die Lust fehlte. "Dann aba hab i die Moni kennaglernt. Die is frisch ausm Bayerischen Woid kemma." Monika Drasch, studierte Musikerin, Dozentin, Geigerin, eine Frau mit fulminanter Bühnenpräsenz, ein "wahres Teufelsweib", wie Göttler in einem CD-Booklet schrieb. Anfang der Neunzigerjahre stieg das Teufelsweib ein. Wenig später kam Josef Brustmann dazu, Musiklehrer und Poet. Die große Zeit des Jodelwahnsinns begann.

"Auf oamoi is des losganga wira Raketn", sagt Göttler. Immer größer wurden die Säle, in denen sie auftraten, sie spielten in Österreich, in der Schweiz, gar in Norddeutschland "bis Hamburg nauf". Für ein Stück der Kammerspiele schrieben sie die Musik, sie nahmen CD's auf, waren bei Dieter Hildebrandts "Scheibenwischer" im Fernsehen. "So hat sie des aufgschaukelt, i war selba überrascht". Wie die Biermösl Blosn gehörte der Jodelwahnsinn zu jenen Gruppen, die mit rotzfrechen Texten und Arrangements jenseits des althergebrachten Einerleis neue Töne in das von der Traditionspflege halb totgetrampelte Terrain der Volksmusik brachten; eigentlich auch eine Rückkehr zu den Zeiten, als die Mühseligen und Beladenen im Wirtshaus Lieder gegen die Obrigkeit gesungen hatten. Und jetzt wieder: Es ging nicht um Berggipfel, Bauernstubn und die Jungfrau Maria, sondern um die Brüche, Skandale und Verwerfungen der Gegenwart, begleitet von Dudelsack, Drehleier, Okarina, Trommel, Tuba, Cello, Harfe und so weiter. Zur Melodie eines alten Zwiefachen schrieb Göttler: "Hunger kriag i glei, wann i an McDonald's siech, wird's mir in Magn drin warm, ziagts man glei zsamm."

Der Jodelwahnsinn gab einem das schöne Gefühl, dass Bayern doch mehr ist als CSU, Schweinsbraten und Herrgottswinkel. Göttler verkörperte auf der Bühne so etwas wie den Vorstadt-Revoluzzer, der aufmüpfig und deftig, aber auch wunderbar hinterfotzig die Blödheiten der Menschen besang. Monika Drasch umgab (und umgibt noch immer) die Aura der Rätselfrau, die in einem Moment wie die Unschuld vom Lande aussah und im nächsten einem Vamp glich, unwiderstehlich und gefährlich. Neben der satirischen Disziplin des Derbleckens beherrschten die drei die Kunst, magische Momente zu erzeugen. Wenn Drasch etwa "Wödaschwüln" sang, eine Ballade der Bayerwald-Dichterin Emerenz Meier, dann musste man aufpassen, dass die Augen nicht feucht wurden. Ewig schad, dass es dieses Trio nicht mehr gibt.

"Mia ham Geld verdient, richtig vui Geld, und des is ned guad."

Das Ende kam 2002. Warum? Göttler stöhnt auf, dann eine längere Pause. "Schwierig, schwierig, schwierig", sagt er endlich. Man spürt, dass er nicht gerne darüber redet. Nur so viel: "Intern is a schlechte Stimmung aufkemma. Mia ham Geld verdient, richtig vui Geld, und des is ned guad. Mehr sag i ned." Immerhin, das Geld hatte es ihm ermöglicht, den Weinhandel aufzugeben, der ohnehin auf der Kippe stand, weil man ihm die Räume gekündigt hatte.

Göttler aber ist keiner, der sich zerknirscht ins Kämmerlein zurückziehen würde. Vermutlich würde er noch im tiefsten Verlies die Ärmel hochkrempeln und sagen: "Glei mach ma weida." So war es auch nach dem Ende des Jodelwahnsinns. Göttler tat sich mit dem schräg hinterkünftigen Liedermacher Sepp Raith zusammen, sie schrieben Programme, in denen es um die Sendlinger Mordweihnacht ging oder um den Räuber Kneißl, im Grunde ein armer Hund, der aus Not zum Verbrecher wurde. Nebenher startete er das Projekt "Unverschämte Wirtshausmusik", eine Brettlkunst, die so klingt, wie sie heißt. Zuerst waren die Oberpfälzer Raith-Schwestern dabei, später die Harfenistin Konstanze Kraus und danach Geli Huber, ebenfalls Harfe. Von Dauer waren die Formationen selten. "Vielleicht liegt's a an mir, weil i oana bin, der ois immer richti guad machn wui, i ko koa Kaschperltour braucha."

Bis heute Bestand hat Göttlers Band Diatoniks, für die er nach "langem Aussieben" den Landy und den Alfons gefunden hat. "Die zwoa passn wia d'Faust aufs Aug". Der Landy heißt eigentlich Robert Landinger, ist ein "Supergitarrist" und mit dem BR-Werbespruch "I bin da Landy, und da bin i dahoam" in Bayern weltberühmt geworden. Alfons Helfter ist ein "Superschlagzeuger", und zu dritt machen sie eine Musik, in der Punk, Reggae, Rock und Blues eine extravagante Verbindung mit traditionellen Klängen eingehen. "Mia schaun scho, dass ma a flotte Musik macha, a was Lustigs, aber scho a tiefgründig."

Volksmusik bleibt für Göttler das Fundament. Die aber "muss ma im Bluad habn." Göttler hat sie im Blut. "I steh in der Fria auf und spui a Stund Zither." Das ist wie Yoga, nur gesünder. "Gottseidank geht's mia guad. So guad is mia no nia ganga. I hob koan Druck mehr, es is, wias is."

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