Dieses Wochenende, eigentlich das mittlere Oktoberfestwochenende, sind sie wieder besonders aufgefallen im Altstadtbild: die Wiesngrattler. Das sind großspurige, grölende, braungebrannte Männer mit Sonnenbrillen in künstlich wirkenden Lederhosen. Das sind Frauen in sehr kurzen Röcken und allzu bunten Kostümen, die in den sozialen Netzwerken wegen ihrer Reizwäschefunktion etwas platt "Fickmich-Dirndl" genannt werden. Die Wiesngrattler wirken dann besonders verstörend, wenn sie ihrem natürlichen Lebensraum, der Wiesn, enthoben sind. So wie jetzt.
Wäre Wiesn, so wäre wahrscheinlich niemand überrascht über die Wiesngrattler. Dann hätte man ja gewusst, wo sie eigentlich hingehören: auf die Theresienwiese und mitten hinein in einen Ausnahmezustand. Dort fallen sie nicht weiter auf, weil dort eh alles anders ist als normal und sie letztlich doch nur einen kleinen Prozentsatz des Unnormalen darstellen.
Für alle, die es in der Zwischenzeit vergessen haben: So geht's zu auf der Wiesn. Eine Enge, die in diesen Zeiten schier unvorstellbar scheint.
Tanzen und ...
... tatschen, ...
... posen ...
... und pofen, ...
... saufen im Haufen: Volker Derlath hat alles festgehalten.
Das Oktoberfest ist aber sehr viel mehr. Wer das ganze Panorama sehen will, der muss auf 2022 hoffen. Oder er besorgt sich einen ganz besonderen Fotoband.
Der Fotograf Volker Derlath ist ein leidenschaftlicher Beobachter von Ausnahmezuständen, und im Falle des Oktoberfests auch noch ein teilnehmender Beobachter. Wer die SZ schon länger liest, kennt ihn noch als Fotokolumnisten, der mit dem "Paar der Woche" die Münchner Theaterszene begleitete und mit der "Anderen Seite" das Alltags- und Nachtleben dieser Stadt (die aktuelle Ausstellung "Nachts" im Stadtmuseum über die Clubkultur lebt in weiten Teilen von seinen Aufnahmen). Das Oktoberfest hat er bisher 35 Jahre lang begleitet. Und zwar meist nur mit seiner Pentaxkamera nebst Aufsteckblitz und diversen Schwarz-Weiß-Filmen. Und er hat eine ausgefeilte Technik entwickelt: "Ich kann dann mit dem kleinen Finger der rechten Hand scharfstellen", sagt er, "in der linken Hand habe ich den Masskrug." Wer ihn kennt, weiß, dass er ähnlich wie Lucky Luke den Colt zieht, schneller fotografiert als sein eigener Schatten.
Das Ergebnis ist ein Panoptikum in Schwarz und Weiß, das er selbst mal "die Inszenierung eines internationalen Ensembles" genannt hat, "eine Lebensbühne, auf der man Wesenszüge ausleben kann, die man andernorts unter den Zivilisationsteppich kehrt". Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Mal eine rührende von alternden Liebespaaren, die sich ganz offenkundig noch immer lieben. Bei jüngeren Menschen finden sich sehr unbeholfene Versuche der Beischlafanbahnung ebenso wie platte Balzszenen und alle Phasen des Anhimmelns. Das wirkt ebenso archaisch wie manche Figuren in Fahrgeschäften, die eher an einen mittelalterlichen Totentanz erinnern als an Hightech in Vollendung.
Freilich, die Wiesn ist im wesentlichen ein Bacchanal des Münchner Biers, falls der Begriff "Bacchanal" dafür dehnbar genug ist. Und so sieht man viele Biertrinker, oft weit jenseits ihrer eingebildeten Leistungsfähigkeit. Man sieht erschöpfte und ermattete Grazien mit trübem Blick. Es gibt aber auch stille Exzesse. Das sind sowieso die interessanteren. Weil alles in Schwarz-Weiß stattfindet, wird die ganze eigentlich doch grellbunte Veranstaltung so nur noch kenntlicher. Der rückhaltlos praktizierte Unfug in der vollen Pracht seiner Sinnlosigkeit ebenso wie die leisen, anrührenden Momente menschlicher Zuwendung. So entsteht dann Fotokunst aus einem Ausnahmezustand, der - genau betrachtet - das allzu Normale nur in eine andere Form packt.
Volker Derlath: Oktoberfest 1984-2019, Verlag Slanted Publishers, 208 Seiten, 38 Euro