Isabel Rohde hat ein Fernglas in den Englischen Garten mitgebracht; es erregt die Aufmerksamkeit einiger älterer Damen, die den sonnigen Mittag offenbar für einen Spaziergang nutzen. „Zählen Sie die Vögel?“, fragt eine von ihnen und beginnt, ohne die Antwort abzuwarten, zu berichten: In ihren Garten komme stets ein Schwarm Stieglitze, gleich zehn Stück. Hübsch seien die, mit ihren roten Gesichtern und den gelben Streifen; sie knacke für die wählerischen Tiere im Winter sogar extra Sonnenblumenkerne. Ihre Begleiterin kann bei sich zu Hause dagegen immer weniger gefiederte Besucher beobachten, wie sie sagt: „Früher haben wir viel mehr gehabt – aber jetzt nur noch zwei Amseln.“
Rohde, die Leiterin der Abteilung für Vogelkunde und Vogelschutz beim Landesbund für Vogelschutz (LBV) München, nickt dazu. Die Vogelexpertin hat sich an der Futterstelle unweit des Chinesischen Turms positioniert, welche der LBV dort als Musterbeispiel jeden Winter aufstellt und mit der Hilfe von Ehrenamtlichen betreut. An den mit Kernen und Fettblöcken bestückten Häuschen und Futterröhren tummeln sich hauptsächlich Kohl- und Blaumeisen, laut Rohde zwei der häufigsten Vogelarten in München und dem Umland. Ebenso die Amseln und Rotkehlchen, die auf dem Boden nach Körnern suchen. Etwas genauer hinschauen muss man bei den flinken Schwanzmeisen, Bergfinken und Kleibern – doch auch diese Arten entdeckt die Expertin schließlich beim geduldigen Blick durchs Fernglas.



München, mit seinen Grünflächen wie dem Englischen Garten oder dem Nymphenburger Park, den zahlreichen Gewässern und den Isarufern, bietet vielversprechende urbane Lebensräume für Vögel in Deutschland. Aktuell leben hier nach Angaben der Stadt etwas mehr als 100 Vogelarten, darunter auch eher seltene wie der Gartenrotschwanz, der Eisvogel oder der Zilpzalp. Die Auswirkungen des Klimawandels sowie der Verlust von Lebensräumen und Nahrungsressourcen durch die fortschreitende Urbanisierung besorgen die Naturschützer allerdings zunehmend. „Tatsächlich haben wir je nach Vogelart nicht so gute Bestände in München“, sagt Rohde.
Denn auch wenn die Landeshauptstadt vergleichsweise „recht grün“ sei – für Vögel sei sie flächendeckend „nicht grün genug“, so die LBV-Expertin. Wie in den meisten bayerischen Metropolen und Gemeinden werde in und um München herum immer mehr Fläche versiegelt. Für Vögel bedeutet das neben zunehmend heißeren Sommern einen Rückgang in Biodiversität, Brutplätzen und Nahrungsquellen. Selbst sogenannte Kulturfolger – etwa gebäudebrütende Vogelarten wie Mauersegler oder Schwalben, die sich an menschliche Siedlungen angepasst haben – können laut Rohde aus dieser Entwicklung keinen Nutzen mehr ziehen.
„Bei der Sanierung von Gebäuden werden oft Brutnischen verschlossen. Leider wird auch immer mehr mit Glas gebaut, das zum Vogelschlag führt und an dem viele Vögel verenden.“ All das führe dazu, dass viele für Städte und Siedlungen typische Vogelarten seit Jahren im Bestand abnehmen. Laut dem Bayerischen Landesamt für Umwelt steht sogar der ehemalige „Allerweltsvogel“ Haussperling, oder Spatz im Volksmund, bayernweit seit 2016 auf der Vorwarnliste der vom Aussterben bedrohten Arten. Auch in München sei der Bestand insgesamt „schwächelnd“, sagt Rohde.
Menschen aus ganz Bayern helfen beim Melden der Vögel – jeder kann mitmachen
Die größten Veränderungen wird jedoch der Klimawandel bringen. „Vor allem die Häufigkeit der vorkommenden Arten wird sich vermutlich verschieben“, vermutet die Naturschützerin. So sei bereits zu beobachten, dass sich mit den tendenziell milderen Wintern auch das Verhalten einiger Zugvögel ändere. Viele Arten müssten nicht mehr weit oder auch gar nicht mehr in den Süden ziehen, um den Winter zu überstehen, weil sie auch weiterhin vor Ort Nahrung finden. Zilpzalp, Zeisig, Buchfink und Hausrotschwanz etwa würden inzwischen zunehmend hierzulande überwintern und nicht mehr in den warmen Süden migrieren. „Es wird tendenziell mehr“, sagt Rohde.
Dazu hätten sich hier zusätzliche Arten als „Wintergäste“ etabliert. Die meisten Rotkehlchen etwa, die im Winter in München anzutreffen sind, stammen ihr zufolge aus Norddeutschland, Skandinavien oder Osteuropa. Statt wie früher nach Südeuropa zu ziehen, überwintern diese mittlerweile in Ländern, die sie einst als zu kalt empfanden: Deutschland, Österreich oder die Niederlande. Doch auch die heimischen Rotkehlchen bleiben nun länger oder sogar über die ganze kalte Jahreszeit hinweg vor Ort. Die Wacholderdrossel, einst ein traditionell nordischer Zugvogel, wird im Winter laut Rohde inzwischen ebenfalls immer häufiger in München gesichtet.

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Erkenntnisse über diese langfristige Entwicklung der Vogelpopulation in München zieht der LBV insbesondere aus der Zählaktion „Stunde der Wintervögel“, zu welcher der Verband jährlich um den Dreikönigstag herum aufruft. Dabei stützt er sich auf die Meldungen von Bürgerinnen und Bürgern, die eine Stunde lang an Futterhäuschen, im Garten, auf dem Balkon oder an einer festen Stelle im Park Vögel zählen. Heuer finden die freiwilligen Aktionstage vom 10. bis 12. Januar statt.
2006 hatte Heinz Sedlmeier, der Geschäftsführer der LBV-Kreisgruppe München, die Vogelzählung ins Leben gerufen, um langfristig Daten über die Bestandsentwicklung der heimischen Vogelpopulation sowie die Auswirkungen der Winterfütterung und die Folgen von Klimawandel und Wetterereignissen zu sammeln. 900 bis 1000 Meldungen seien damals bereits erfasst worden, erzählt Isabel Rohde. „Damals wurde der Meldebogen noch als Postkarte verschickt und die Daten wurden alle händisch eingegeben.“
In den zwanzig Jahren ihres Bestehens hat sich die „Stunde der Wintervögel“ in Deutschland fest etabliert. Tausende Meldungen erreichen den LBV jährlich von freiwilligen Naturbeobachtern. Im vergangenen Jahr beteiligten sich bayernweit fast 27 000 Personen an der Aktion; sie zählten rund 631 000 Vögel. „Das ist toll, weil wir dadurch eine wirklich langfristige Datenreihe haben“, sagt Rohde. In den vergangenen Jahren konnte die Studie bereits einige neue Erkenntnisse über die Vogelwelt in Bayern liefern: So wurde 2008 erstmals nachgewiesen, dass sich Kraniche in Südbayern aufhielten. Sieben von ihnen wurden sogar über Münchner Stadtgebiet gesichtet – eine „Sensation“, wie der LBV schreibt. Für München lieferte die Zählung zudem erstmals konkrete Belege für den starken Rückgang des Haussperlings im Stadtzentrum.
„Unser Ziel ist es jetzt, den Datenbestand langfristig fortzuführen, um über die kommenden Jahre zu beobachten, welche Veränderungen der Klimawandel bringt“, sagt Rohde. Denn das sei – selbst mit der beständigen Datenreihe aus zwanzig Jahren – noch immer nicht abzusehen.
Die „Stunde der Wintervögel“ vom 10. bis 12. Januar. Die Zahlen aus dem Zeitraum können bis zum 20. Januar gemeldet werden. Infos unter www.lbv.de/mitmachen/stunde-der-wintervoegel/.