Süddeutsche Zeitung

Verkehrswende in München:Radler und Fußgänger müssen Vorfahrt haben

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Jahrzehntelang war es allzu bequem, sich in den Wagen zu setzen, Heizung und Musik aufzudrehen und Gas zu geben. Das funktioniert nicht mehr in einer Stadt, die kurz vor dem Verkehrskollaps steht.

Kommentar von Thomas Anlauf

Das Wort "Verkehrswende" drückt es sehr deutlich aus: Wer sie will, muss kräftig das Ruder herumreißen. Es geht also um etwas Grundsätzliches. Und genau das hat der Münchner Stadtrat beschlossen. Er hat sich im vergangenen Juli den zwei Bürgerbegehren "Radentscheid" und "Altstadt-Radlring" mit großer Mehrheit angeschlossen und soll sie nun umsetzen. Ende Januar stellten Oberbürgermeister Dieter Reiter und Stadtbaurätin Elisabeth Merk ein "Gesamtkonzept für Münchens Mobilität der Zukunft" vor. Darin geht es um den massiven Ausbau des Radverkehrs auch auf Hauptverkehrsstraßen wie der Leopoldstraße. Das ist alles beschlossen.

Trotzdem schießt seit Monaten vor allem die CSU massiv gegen die Pläne. Da redet der Münchner Parteichef Ludwig Spaenle von einer "nordkoreanischen Schneise", weil auf 500 Metern der Fraunhoferstraße Autofahrer nicht mehr parken können wie früher. Da werden eine Bäckerin und ein Betreiber eines Fitnessstudios bemüht, sich gegen den Wegfall von Parkplätzen in der Leopoldstraße stark zu machen, weil wegen einer Radltrasse Autofahrer künftig nicht kurz halten und Semmeln kaufen oder Hanteln stemmen können. Auf Wahlplakaten findet eine Radikalisierung statt zur Rettung des Pkw, dass man glauben könnte, Autos werden in der kommenden Woche aus dem Verkehr gezogen.

Das ist Quatsch und Wahlkampfgetöse. Mag sein, dass die Münchner Radlfans derzeit ein wenig zu stark in die Pedale treten, damit die Stadtratsbeschlüsse schnellstmöglich umgesetzt werden. Aber es geht doch um eine wirkliche Wende in der Verkehrspolitik: Fahrradfahrer und Fußgänger müssen in dieser Stadt endlich mehr Raum und damit auch mehr Schutz bekommen. Dazu muss der öffentliche Nahverkehr so schnell wie möglich auf allen Ebenen ausgebaut werden. Das alles kann nur zu Lasten der Autos gehen.

Jahrzehntelang war es nur allzu bequem, sich in den Wagen zu setzen, Heizung und Musik aufzudrehen und Gas zu geben. Das funktioniert heute nicht mehr in einer Stadt, die kurz vor dem Verkehrskollaps steht und sich zur Klimaneutralität verpflichtet hat. Keine Panik: Handwerker, Rettungsdienste, Speditionen und auch Kranke dürfen ja auch heute in die Fußgängerzonen fahren. Aber Vorfahrt müssen künftig nicht mehr Autofahrer, sondern Fußgänger und Radler haben.

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SZ vom 04.03.2020
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