"100 Meter Zukunft":"Wir tun mal so, als wären wir eine Behörde"

"100 Meter Zukunft": Spontan haben sich am Sonntag Menschen auf die gesperrte Schwanthalerstraße gesetzt.

Spontan haben sich am Sonntag Menschen auf die gesperrte Schwanthalerstraße gesetzt.

(Foto: Stephan Rumpf)

Das Kollektiv "Referat für Stadtverbesserung" gestaltet für eine Aktion die Schwanthalerstraße um - und zeigt, wie sich eine Straße in einen lebenswerten Raum verwandeln könnte.

Von Thomas Anlauf

Autofahrer stehen Schlange, nichts geht vorwärts. Vorne an der Kreuzung beginnt das Nadelöhr, eine Großbaustelle, die den Verkehr bis zur Sonnenstraße auf eine provisorische Fahrbahn zwängt. Dazwischen quetschen sich noch Radler in der Hoffnung, nicht von einem Lkw übersehen zu werden. Die breite Schwanthalerstraße ist schon zu normalen Zeiten eine Stauzone. Seit die Stadt vor Monaten begonnen hat, eine Fernkälteleitung zu verlegen, ist die Verkehrsschneise so gut wie unpassierbar.

Am Sonntagnachmittag sieht es allerdings auf einem hundert Meter langen Abschnitt ziemlich entspannt aus. Menschen sitzen mitten auf der Straße, eine Yogalehrerin ruft zum Mitmachen auf. Überall stehen Blumentöpfe mit hohen Gräsern und Büschen. Hier ist für einen Tag lang eine grüne Sperrzone für den Verkehr: "100 Meter Zukunft" heißt die Aktion und sie soll zeigen, wie sich eine stark befahrene Straße in einen lebenswerten Raum für Menschen verändern könnte.

"Wir tun mal so, als wären wir eine Behörde", sagt Max Steverding und grinst. Er hat mit einer Gruppe von Studierenden der TU München vor einigen Monaten das Urbanistik- und Architektur-Kollektiv "Referat für Stadtverbesserung" ins Leben gerufen. Die Architekturstudenten wollten zeigen, wie leicht Straßenraum so umgestaltet werden kann, dass er nicht nur für Autos da ist, sondern vor allem auch für Anwohner. Während einer Semesterarbeit stellte die Gruppe fest, dass es in München zwar schon viele Ansätze aus der Stadtverwaltung gibt, "aber es fehlt uns die Umsetzung".

Angesichts des Klimawandels erarbeiteten die Studenten Konzepte für eine Stadt der Zukunft, in der es deutlich weniger Autoverkehr, dafür aber viel mehr Raum zum Flanieren und Sitzen auf der Straße gibt. Dabei haben sie sich an den bereits bestehenden Bausteinen der Verwaltung wie den Verkehrsrahmenplan gehalten und die Ideen weiterentwickelt. Nach ihrer Vision könnte demnach etwa die bislang vierspurige Schwanthalerstraße zwischen Theresienwiese und Sonnenstraße zu einer verkehrsberuhigten Zone mit Bäumen und Büschen mitten auf der Straße werden. Parkplätze gäbe es dann entlang der Fahrbahn keine mehr.

Was revolutionär klingt, ist für Max Steverding eine einfache Rechnung. In der gesamten Schwanthalerstraße gebe es offiziell 300 Straßenparkplätze. Demgegenüber stünden 4800 öffentliche Parkplätze in Parkhäusern an der Straße, die viele Autofahrer gar nicht kennen. "Wenn wir die Stellplätze von der Straße nehmen, dann sind die Parkhäuser besser ausgelastet und man hat mehr Raum auf der Straße", sagt der angehende Architekt. Raum, der dann mehr von Anwohnern genutzt wird.

Ganz ausgesperrt sollen laut der Vision die Autos nicht völlig, doch der Raum würde anders verteilt: in eine sogenannte Erdgeschosszone, eine Aufenthaltszone und eine Flexzone. Den Shared Space würden sich Fußgänger, Radfahrer und auch Autos teilen. Allerdings schwebt den Visionären vor, dass der Autoverkehr in München bis 2028 nur noch 20 Prozent des Gesamtverkehrs ausmacht. Gerade in einer Verkehrsschneise wie der Schwanthalerstraße sei ein derartiges Experiment besonders spannend. "Hier gäbe es einen viel größeren Lerneffekt als in Straßen wie dem Glockenbachviertel, wo es den Menschen ohnehin schon gut geht", sagt Steverding. Das südliche Bahnhofsviertel mit seiner Mischung aus Gewerbe, Gastronomie und Wohnhäusern sei eine besondere Herausforderung bei einer Neuordnung des Straßenraums.

"100 Meter Zukunft": Viele Münchner informierten sich über die Vision von einer Stadt, in der statt Autos Menschen Vorrang haben. Mehr Raum für Bäume gäbe es auch.

Viele Münchner informierten sich über die Vision von einer Stadt, in der statt Autos Menschen Vorrang haben. Mehr Raum für Bäume gäbe es auch.

(Foto: Stephan Rumpf)

Unterstützung erhalten die Architekturstudenten von der Münchner Umweltorganisation Green City. Diese hatte im Frühjahr das Aktionsprogramm "Gestaltet deine Stadt" gestartet und die Münchner aufgerufen, Ideen für eine lebenswertere Stadt zu präsentieren. Eine Jury zeichnete das "Referat für Stadtverbesserung" aus und halfen bei der Umsetzung des Aktionstags auf der Schwanthalerstraße. "An diesem Ort sieht man gut, dass man solche Ideen ganz einfach umwandeln kann", sagt Katharina Frese von Green City. Sie ist davon überzeugt, dass die Verkehrswende in München auf diese Weise stückweise umgesetzt werden kann. Gerade jetzt in Zeiten von Corona sei es "ein guter Moment, das auch einfach auszuprobieren".

Die sogenannten Schanigärten vor vielen Münchner Lokalen und die Pop-up-Radspuren seien ein Beleg dafür, dass solche Veränderungen auch gut angenommen würden. "Wir haben erfahren, dass die Leute, die hier leben, durch die Bank grüner wohnen wollen", sagt Frese. Dabei gehe es nicht darum, das Autofahren in München generell zu verbieten. Doch die Vision sei da: zunächst eine autoreduzierte Altstadt und danach ein Ausbau der Zone bis zum Mittleren Ring. Am Sonntagnachmittag haben Hunderte Anwohner der Schwanthalerstraße schon einmal erleben können, was es bedeutet, wenn kein Stau vor der Haustür ist oder Motorräder röhrend durch die Häuserschlucht rasen.

Auf einem Schild am Anfang der kleinen Begegnungszone steht mitten auf der Straße eine Botschaft. Zu lesen ist: "Sie verlassen 2020. Willkommen im Shared Space 2028."

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