München und das Umland:Oberhaching, Sehnsuchtsort für Menschen mit Geld

Oberhaching: Von der Stadt in den Speckgürtel

Immer mehr Menschen ziehen nach Oberhaching. Einheimische fürchten um die Identität der kleinen Gemeinde.

(Foto: Stefanie Preuin)

Die steigenden Immobilienpreise machen den Ort südlich von München immer beliebter - und immer teurer für die Einheimischen. Manche sehen die Dorfgemeinschaft bedroht.

Von Anna Reuß (Text), Stefanie Preuin (Fotos) und Sandra Sperling (Videos)

"Verbunden werden auch die Schwachen mächtig." Friedrich von Schiller (1759 - 1805), aus Wilhelm Tell, 1. Akt, 3. Szene

Nikolaus Aidelsburger war 36 Jahre lang Bürgermeister von Oberhaching. Zu seiner Beerdigung an einem heißen Junitag vor sechs Jahren kamen Gott und die Welt und erwiesen dem Verstorbenen die letzte Ehre. "Eingraben" sagen sie hier, wenn jemand beerdigt wird. Fahnenabordnungen aller Vereine marschierten dem Trauerzug zum Friedhof voraus, dahinter der halbe Ort in Tracht und Uniform.

Mehr als 500 Leute waren gekommen, seine Beisetzung ähnelte einem Staatsbegräbnis. Die roten Helme der Feuerwehrmänner, die am Sarg Spalier standen, leuchteten wie Fliegenpilze in der Sonne. Neben dem Rednerpult war ein Blumenbouquet aus Hortensien in Weiß und Blau arrangiert - den Farben im Wappen von Oberhaching. Es war noch einmal ein Hochfest der Dorfgemeinschaft.

Oberhaching: Von der Stadt in den Speckgürtel

Im Laufe der Zeit hat sich die Gemeinschaft verändert, findet Florian Schelle.

(Foto: Stefanie Preuin)

Florian Schelle hielt eine Ansprache am Grab. Er kannte Aidelsburger, seit er denken konnte. 30 Jahre lang war der Landwirt Gemeinderat. Als er sich 2014 nicht mehr zur Wahl aufstellen ließ, hatte er mehr Lebensjahre im Amt verbracht als ohne. Politisch einig seien sich er und Aidelsburger gewiss nicht immer gewesen, sagt Schelle heute, obwohl sie beide Mitglied der CSU waren. Aber auch wenn es im Gemeinderat mal turbulent wurde: Danach gingen sie trotzdem zusammen ins Wirtshaus.

Seit der Beerdigung sind sechs Sommer vergangen. Wer zurückblickt, dem kommt es so vor, als wäre mit Aidelsburger auch eine Epoche zu Grabe getragen worden. Denn seither hat sich manches verändert in der Gemeinde im Münchner Süden, die wie gemalt zwischen dem Stadtrand und dem Tölzer Voralpenland liegt. Die immer schneller steigenden Immobilienpreise haben einiges ins Wanken gebracht.

Wer ein Einfamilienhaus in Oberhaching kauft, muss heute doppelt so viel bezahlen, wie 2012. Der durchschnittliche Kaufpreis von Einfamilienhäusern hat 2017 erstmals die Millionenmarke durchbrochen. "Früher, wenn die Leute Lehrer waren oder bei BMW gearbeitet haben, konnten sie sich hier ein Haus leisten", sagt Florian Schelle. Heute sei das anders. Manche sagen, dass Oberhaching zum zweiten Grünwald werden könnte. Die Millionärs- und Promi-Gemeinde im Isartal liegt nur wenige Autominuten entfernt.

Seit die Wohnungspreise in der Stadt explodieren, ziehen immer mehr Menschen ins Umland, und die, die es sich leisten können, bevorzugt nach Oberhaching. Die Lebensqualität in der 13 500-Einwohner-Gemeinde ist hoch: Es gibt zahlreiche Vereine, weiterführende Schulen, ein Freibad und außer der S-Bahn ist auch die Autobahn nicht weit, über die man schnell in der Stadt und in den Bergen ist - wenn es sich nicht gerade staut. Das Problem: Auch andere merken, dass es sich hier gut lebt. Immer mehr kommen, denen München zu laut oder zu eng ist.

Langsam spüren sie hier die Folgen: "Die, die schon lange dabei sind, haben eine Dorfgemeinschaft. Und die, die herziehen, wollen damit meistens nichts zu tun haben", sagt Schelle, der Landwirt. Seinen Namen kennt man hier. Er betreibt mit seiner Frau eine Pferdezucht mit Frühstückspension. Der Türknauf zum Eingang seines Hauses ist ein Ross aus Messing, das auf den Hinterbeinen steht. 20 Pferde stehen in den Ställen des kernigen Bayern. Der Name der Rasse: Süddeutsches Kaltblut. Es gibt sogar eine Straße, die "Am Schelleberg" heißt. Dort leben drei Brüder und zwei Cousins mit ihren Familien, alle haben den gleichen Nachnamen. Einer von ihnen ist der Bürgermeister.

Seit 46 Jahren ist Florian Schelle schon Mitglied im Trachtenverein von Oberhaching, zunächst als Schuhplattler und seit 22 Jahren als dessen Vorsitzender. Die Trachtler sind ein wichtiges Glied im örtlichen Kollektiv. "Wir haben für alles Mögliche einen Verein", sagt Schelle. Er erklärt das so: Nach dem Krieg besaß kaum einer was, die Leute hätten sogar ins Wirtshaus ihren selbstgebrannten Fusel mitgebracht. Aus dem Bedürfnis, etwas neu aufzubauen, entstanden die Vereine.

Doch diese im Laufe der Zeit gewachsene Gemeinschaft verändert sich: Vereinen kommen Mitglieder abhanden, weil die zugezogenen Bürger nicht eintreten. Sein Trachtenverein sei noch einigermaßen gut aufgestellt, sagt Schelle. Nur junge Männer hätten irgendwie keine Lust. Denn: "Alles was zwei Hax'n hat, spielt Fußball. Ist halt die Ersatzreligion."

Kurze Fahrt in eine andere Welt

Oberhaching: Von der Stadt in den Speckgürtel

Zwei Jahre lang haben Ludger Voss und seine Frau nach einem passenden Grundstück gesucht.

(Foto: Stefanie Preuin)

Oberhaching liegt 15 Kilometer vom Münchner Zentrum entfernt - nah genug, dass sogar die Vorwahl dieselbe ist. Doch wer von München nach Oberhaching fährt, kommt in eine andere Welt: das echte Oberbayern. Der Ortskern ist so klein und adrett, geradezu puppenstubenhaft, als hätte ihn jemand am Reißbrett entworfen. Wer seinen Blick nach rechts und links in die Seitenstraßen wendet, der sieht Häuser, die überwiegend nur zweistöckig sind, mit Holzverkleidungen und Vorgärten, die von der Akkuratesse ihrer Besitzer zeugen. Das Alpenpanorama, das sich dahinter am Horizont auftut, sehen die Münchner nur aus Hochhäusern.

Oberhaching ist ein Dorf, das Gemeinschaft und soziale Bindungen ausmacht, keine Schlafstadt vor den Toren Münchens - darauf versteifen sich viele hier. Die kalten, nackten Zahlen zeigen jedoch: Es findet längst ein immenser Austausch der Bevölkerung statt. Seit 2005 sind 10 948 Menschen zugezogen. Ähnlich viele - 9190 - sind im selben Zeitraum gegangen.

Einer von denen, die neu nach Oberhaching kommen, ist Ludger Voss. Sein klares Hochdeutsch wird ihn dort wohl verraten. Der Geschäftsführer eines Münchner Unternehmens und seine Frau haben sich hier ein Grundstück gekauft. Das alte Haus darauf, das aus den Sechzigerjahren stammt, lassen sie gerade abreißen. Danach soll schnellstmöglich mit dem Bau ihres neuen Zuhauses begonnen werden. Noch lebt die Familie in München. "Dort stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis schon lange nicht mehr", sagt der 58-Jährige. Die Wohnung mit nur einem Kinderzimmer wird langsam zu klein für die vierköpfige Familie.

Zwei Jahre lang hätten sie gesucht und nicht das Richtige gefunden. Im Juli vergangenen Jahres unterzeichneten sie schließlich den Kaufvertrag. Als Voss von dem neuen Haus zu sprechen beginnt, wird er euphorisch: "Etwas Schönes zu schaffen und zu hinterlassen, reizt mich." In der Stadt gehe das nicht mehr. Zum neuen Schuljahr will Familie Voss umziehen.

Heimat sei heute etwas ganz anderes als früher, sagte Norbert Göttler unlängst in einem Interview mit der SZ. Als Bezirksheimatpfleger kennt er diesen Begriff sehr gut. Weil viele gar nicht wüssten, wie lange sie an einem Ort bleiben, sei es schwer, soziale Bindungen aufzubauen. "Ungehemmtes Wachstum kann für die Sozialstruktur eines Orts sehr problematisch werden", warnt er.

Viele Zugezogene interessierten sich zunächst sehr für ihren neuen Wohnort. Doch das Engagement sei meist kurzfristig. Für eine funktionierende Sozialstruktur brauche es aber ein längerfristiges Engagement in den Vereinen oder Verbänden, die einen Ort prägen.

In Oberhaching gibt es ungefähr 70 Vereine. Einer davon ist die Kolpingfamilie, ein Sozialverband der katholischen Kirche. Georg-Michael Kaiser ist seit 15 Jahren ihr erster Vorsitzender. An einem Freitagnachmittag im Januar klingelte sein Telefon, als Kaiser längst die Hoffnung aufgegeben hatte. Eine Frau rief an und gab ihm ihre Zusage: Sie wird fortan Mitglied im Vorstand. "Gott sei dank", sagt er erleichtert. Der 56-Jährige wollte eigentlich aufhören, doch es geht nicht. Es sei schon schwer genug, einen Vorstandsposten neu zu besetzen - zwei auf einmal wären unmöglich. Also macht er es eben noch mal für drei Jahre.

Die Kolpingfamilie wird im Ort gebraucht, denn sie hilft denen, die nicht genug haben. Und auch die gibt es hier: Bewohner des Altenheims bekommen zum Geburtstag eine Tafel Schokolade oder eine Schachtel Zigaretten. Familien werden unterstützt, damit sie Schulbedarf kaufen können. Eine ältere Frau kann sich dank einer Spende eine neue Brille leisten. Kaiser befürchtet eine drohende Spaltung der Gesellschaft im Ort: "Der eine hat eine Eineinhalb-Millionen-Villa und fünf Autos, und drei Straßen weiter leben Leute, die nicht wissen, wie sie Stifte für die Kinder kaufen sollen."

Kaiser klagt, dass die meisten Zugezogenen sich nicht in den Vereinen einbringen wollen. Für das Ehrenamt und die sozialen Strukturen kann das gefährlich werden. Noch habe jeder Verein im Ort wohl genügend "Futter", sagt Kaiser. "Nur, wie es in ein oder zwei Generationen aussieht, ist die andere Frage. Wenn unsere Kinder keinen bezahlbaren Wohnraum mehr kriegen, ziehen die halt woanders hin, wo es günstiger ist." Woher die Mitglieder der Vereine in ein paar Jahren kommen, wenn die Preise für die Grundstücke weiter steigen, ist ungewiss. Altruismus ist in den Spielregeln der Marktwirtschaft nicht vorgesehen.

Vom Metzger zum Immobilienmakler

Oberhaching: Von der Stadt in den Speckgürtel

"Metzger ist kein Beruf zum Altwerden", findert Nikolaus Gschlößl. Jetzt arbeitet er als Immobilienmakler.

(Foto: Stefanie Preuin)

Nikolaus Gschlößl bittet in sein Haus im Ortsteil Furth. Der 52-Jährige trägt Sakko und Sneakers. Vor ein paar Jahren war das noch anders. Da führte er eine Metzgerei im Ort mit zehn Angestellten. "Metzger ist kein Beruf zum Altwerden." Körperlich sei er zu anstrengend, zudem habe sich das Einkaufsverhalten verändert: "Die Leute möchten nach 19 Uhr oder Samstagnachmittag einkaufen."

Hinzu komme, dass es im Handwerk schwer sei, Personalnachwuchs zu finden. "Ich habe diesen Job gut 25 Jahre ausgeführt und hatte das Gefühl, dass ich etwas anderes machen will." Jetzt ist er Immobilienmakler. Damit steht Gschlößl wie kaum ein Zweiter für den Wandel im Ort, denn er hat umgesattelt auf eine Branche, wie sie hier lukrativer kaum sein könnte.

Die Adresse seiner Immobilienfirma führt zu seinem Privathaus, der Esstisch in der offenen Wohnküche ist zugleich Besprechungstisch. "Meine Kernkompetenz ist Oberhaching", sagt er. Der Satz könnte so auch in einer Werbebroschüre stehen. Manche seiner Kunden, die noch nicht so lange suchen, kämen mit unrealistischen Preisvorstellungen zu ihm. Nicht allen kann er den Traum vom Eigenheim erfüllen.

"Wer etwa für 600 000 Euro ein Reihenhaus möchte, der sollte lieber außerhalb des S-Bahn-Bereichs suchen", sagt er über den aufgeheizten Markt. Denen müsse er sagen, dass es ihm leid tue, aber man hier in dieser Preiskategorie leider nichts finden könne. Chancen auf ein eigenes Haus hätten mittlerweile nur noch Kunden, die genug Eigenkapital mitbringen: Meist seien das Leute, die von ihren Eltern mit Geld unterstützt werden, oder solche mit einem Grundstück im Familienbesitz.

Es herrscht gerade eine Stimmung wie am Pokertisch. Gschlößl sagt, die, die nicht verkaufen müssten, warteten ab. "Seit ich angefangen habe, waren alle jedes Jahr der Meinung, die Preise sind auf dem Zenit angelangt, doch sie gingen immer weiter hoch."

Heute kosten Grundstücke in Oberhaching mehr als 2000 Euro pro Quadratmeter. "Das hätte man sich vor fünf Jahren nicht vorstellen können", sagt der Makler. Die Nachfrage ist groß: Auf ein Verkaufsangebot kommen bei ihm 50 Anfragen. Die Gentrifizierung ist wie ein Virus ohne Gegenmittel - die Dörfer im Speckgürtel sind längst infiziert.

Oberhaching und Ludger Voss fanden eher zufällig zueinander. Dass es der Süden von München werden sollte, stand jedoch fest: wegen der Nähe zu den Alpen. Als Freunde von ihnen dort ein Haus bauten, wurden sie auf Oberhaching aufmerksam. Bis sie ihr Grundstück fanden, seien die Preise nochmals gestiegen. "Auch Oberhaching ist ziemlich teuer geworden", sagt Voss. Er habe Verständnis für die Leute im Ort, die Angst haben, dass sie sich dort bald nichts mehr leisten könnten. Der Landkreis München hat die dritthöchste Kaufkraft in ganz Deutschland - nach Starnberg und dem Hochtaunuskreis.

Und die Immobilienpreise in manchen Orten unterscheiden sich kaum von denen mancher Stadtviertel. "Ein Wohnungsneubau in einigen Gemeinden kostet hier genau so viel wie in der Stadt München", sagt Alain Thierstein. Er ist Professor für Raumentwicklung an der Technischen Universität (TU) München. Der Stadtplaner und seine Kollegen haben untersucht, wie sich die Region verändert.

Bezahlbarer Wohnraum? Ein rares Gut

Oberhaching: Von der Stadt in den Speckgürtel

Oberhaching, eine perfekte Illusion vom Dorf in der Stadt.

(Foto: Stefanie Preuin)

In einer Studie formulieren sie die Entwicklung im Raum München drastisch: "Bezahlbarer Wohnraum ist ein rares Gut, die Verkehrsinfrastruktur ist am Rande ihrer Leistungsfähigkeit." München ist derart beliebt, dass alleine in der Stadt bis zum Jahr 2035 mehr als 1,8 Millionen Menschen leben werden. Für den Landkreis werden im gleichen Zeitraum 50 000 neue Einwohner erwartet.

Doch je mehr Menschen in der Stadt und den Stadtrandgemeinden wohnen, desto mehr verschwimmt die Grenze. Zwischen Haar und Trudering, Neubiberg, Unterhaching und Perlach sowie Unter- und Oberföhring ist das schon lange zu beobachten. Thiersteins Analyse zeigt, dass die Begriffe Stadt und Dorf eigentlich nicht mehr zutreffen. Für Oberhaching gelte das besonders, denn der Ort bilde zusammen mit einigen anderen Gemeinden entlang der S-Bahn-Linie in den Worten des Stadtplaners bereits "ein Quartier" des größeren Münchens.

Oberhaching als Quartier von München? Wie Giesing mit seinen Sechzgern und Schwabing mit seinen Studenten? "Quartiere haben es so an sich, dass sie eigene Gesichter und Charaktere haben", erklärt Thierstein. Sie seien keine eigenständigen kleinen Dörfer mehr, sondern Teil der Stadt. So wie Grünwald von vielen Münchnern schon lange für einen Stadtteil gehalten wird. Oberhaching wäre dann vielleicht der noble Familienbezirk zwischen Haidhausen und den Alpen: eine perfekte Illusion vom Dorf in der Stadt.

Ein Wintertag offenbart den ungetrübten Blick auf die Berge, das letzte bisschen Schnee auf den Äckern glitzert in der Sonne. Florian Schelle sitzt am Steuer seines Autos und fährt durch sein Dorf. "Ich bin eigentlich nie großartig rausgekommen", sagt er über den Ort, in dem er seit 63 Jahren lebt. Ein paar Mal war er zur Grünen Woche in Berlin, ansonsten ist der Pferdezüchter hier ziemlich zufrieden. In der Bahnhofstraße reihen sich Läden aneinander, die anderswo längst von Amazon verdrängt wurden: kleine Unterwäsche-Boutiquen und Geschäfte, die "Geschenkelad'l" und "Fotolad'l" heißen.

Hier gibt es keine Gehetzten, die sich während der Rush-Hour in den Waggons der U-Bahn drängen und den Geruch des Tagschweißes von Wildfremden billigend in Kauf nehmen. Stattdessen gibt es hier: Ruhe. Während das Internet anderswo die Ortskerne leergefegt hat, sieht es in Oberhaching noch aus wie in einem Tourismusprospekt. Die Idylle, sie ist fast eine Zumutung.

Doch auch hier im Ort wird der Wandel sichtbar: etwa an dem seltsamen Zusammenspiel, wenn sich puristische Neubauten mit bayerischen Bauernhäusern abwechseln. "Früher gab es hier mal 47 Milchbauern", erzählt Schelle. Kein einziger sei mehr übrig. Sein Weg führt durch die Josefstraße, wo er einst jede Familie kannte. Manche Häuser sehen noch aus wie damals. Die Grundstücke wurden noch nicht nachverdichtet, wie das Kommunalpolitiker und Stadtplaner nennen.

Schelle drückt den Strukturwandel so aus: "Alte Frau wohnt drin, alte Frau stirbt, Haus wird herausgerissen, drei neue werden gebaut." Auf dem Weg in die Baugebiete der Sechzigerjahre kommt er an der Franz-Josef-Strauß-Straße vorbei. In den Siedlungen stehen Reihenhäuser mit kleinem Garten. So ein "Hausl" koste hier gut 800 000 Euro, sagt Schelle. Als er sich das sagen hört, schiebt er ein schwermütiges "O, mei" hinterher.

Reale Welt statt Ponyhof

Oberhaching: Von der Stadt in den Speckgürtel

Luitgard Thomas-Hollunder ist seit 34 Jahren Lehrerin am Gymnasium Oberhaching.

(Foto: Stefanie Preuin)

Wer Luitgard Thomas-Hollunder besucht, dem fallen zunächst die vielen Minis, Cabrios und SUVs auf dem Parkplatz auf. Die Lehrerin ist seit 34 Jahren am Gymnasium Oberhaching und Mitglied in der erweiterten Schulleitung. In zwei Jahren wird sie in Pension gehen, sie wirkt jedoch viel jünger als 64. Wenn sie nicht gerade Deutsch oder Latein unterrichtet, berät sie in diesem Büro seit 16 Jahren Schüler und Eltern. An der Tür zu ihrem Büro hängt ein kleines Plakat im Stil eines Ortsschildes: Das Wort "Ponyhof" ist rot durchgestrichen - darunter steht: "Reale Welt".

Früher, als sie hier anfing, waren viel mehr Schüler noch die Kinder von Landwirten. "Die gingen vor der Schule noch in den Stall, bevor sie zum Unterricht kamen." Die Klientel sei eine andere geworden seit 1984: Anders als damals wachsen ihre Schüler heute viel behüteter auf, sagt Thomas-Hollunder. Bildung habe generell einen hohen Stellenwert in der Gemeinde: In vielen Elternhäusern gebe es immer noch eine abonnierte Tageszeitung. Und Kinder, die Nachhilfe benötigen, bekommen welche. Nur wenige können sich Klassenfahrten, Theaterbesuche oder die Pflichtlektüren nicht leisten. "Die Eltern unterstützen, was wir anbieten", sagt sie.

Als sie an die Schule kam, habe sie kurz darüber nachgedacht, nach Oberhaching zu ziehen. Ihr gefällt die Gemütlichkeit und die Stimmung im Ort, sagt Thomas-Hollunder. Trotzdem ist sie froh, es nicht getan zu haben: "Sonst wäre ich dauernd in der Sprechstunde." Sie blieb stattdessen in Ottobrunn, wo ihre Familie seit Generationen lebt. Auch dort ist ihr Haus heute deutlich mehr wert. Auf den benachbarten Grundstücken sei viel nachverdichtet worden. Manche hätten innerhalb von zwei Jahren hundert Prozent Gewinn gemacht, sagt sie. Wer hier kaufe, der sei entweder Gutverdiener oder Erbe, in jedem Fall aber reich. Manche ihrer früheren Kollegen gingen woanders hin, wo es günstiger war. Sie blieb hier.

Der bitterkalte Wind pfeift draußen vor dem Vereinsheim des FC Deisenhofen, der den Namen eines Ortsteils trägt. Drinnen riecht es nach getragenen Sportschuhen. Ein paar Jugendliche wärmen sich gerade auf. Das Haus wurde vor einigen Jahren neu gebaut, damals rechnete der Vorstand nicht damit, dass es heute alleine 26 Jugendmannschaften geben würde. Mittlerweile finden auf dem Gelände jede Woche mehr als hundert Trainingseinheiten statt. Eigentlich könnte der FC schon wieder einen Anbau vertragen. Das ist auch das Verdienst von Martin Schmid, der als Präsident des Vereins den Fokus auf nachhaltige Jugendarbeit richtet: Die Trainer kommen heute aus den eigenen Reihen.

Seit 2006 ist Schmid Vorsitzender. Der 59-Jährige lebt seit seinem dritten Lebenstag in Ödenpullach, einem kleinen Ortsteil mit weniger als hundert Einwohnern. Bis 1983 hat der Landwirt selbst gespielt, dann hörte er auf. Zu gefährlich wegen des Verletzungsrisikos.

Den klassischen Nachwuchsmangel hat der Verein nicht. Im Gegenteil: "Wir platzen aus allen Nähten", sagt der Vereinsvorsitzende. Allerdings, wer es sich heute noch leisten kann, in Oberhaching ein Haus zu kaufen, der gehört zu den "Erlesenen", wie Schmid sie nennt. Es seien jene, die einen hohen Preis dafür gezahlt haben, um im Ort zu wohnen, dementsprechend hätten sie hohe Erwartungen an das öffentliche Leben. Es ist ein Narrativ von uns und denen.

"Manche glauben, weil sie den Jahresbeitrag zahlen, sind wir verpflichtet, ihre Kinder zu bespaßen", sagt er. "Die haben gar nicht im Kopf, dass der Trainer das ehrenamtlich macht." Doch Schmid will sich nicht falsch verstanden wissen: Nicht jeder Neubürger ist so und Ausnahmen gibt es auch im Fußballverein.

Obwohl sich der FC vor neuen Mitgliedern kaum retten kann, hat er Geldsorgen. "Kostenmäßig kommen wir nicht mehr über die Runden", sagt Schmid, "und ohne Spenden könnten wir gar nicht überleben." Bald wird man deshalb den Mitgliedsbeitrag anheben. Der Vorstand habe lange gezögert, denn auch in der reichen Gemeinde Oberhaching, wo die Grundstücke absurde Preise erzielen, gibt es Gewinner und Verlierer: Eltern, die ihren Kindern keine Schulbücher finanzieren können und erst recht nicht den Jahresbeitrag im Sportverein.

Für solche Fälle macht der FC Ausnahmen. "Das sind zwar im Verhältnis nicht viele, aber man darf sie nicht übersehen", sagt Schmid. Von der Gemeinde kommen Zuschüsse, doch am Ende sind es Ehrenamtliche, die Hecken schneiden, Rasen mähen, sich kümmern, wenn das Abwasser mal nicht fließt. Der Jugendleiter des Vereins investiert jede Woche circa 30 Stunden seiner Freizeit in das Amt - im Prinzip ein unbezahlter Zweitjob.

Ludger Voss, der demnächst mit dem Hausbau in Oberhaching beginnt, kommt eigentlich aus Nordrhein-Westfahlen. Seine Frau stammt aus Singapur. "Wir haben immer in der Stadt gewohnt", sagt er. Dann macht Voss eine nachdenkliche Pause und lächelt zurückhaltend. "Wir sind gespannt. Aber man ist ja mit der S-Bahn schnell in der Stadt." Noch wirkt er nicht überzeugt davon, dass ihm Oberhaching dasselbe bieten kann wie München. Für ihr künftiges Leben in der Stadtrandgemeinde haben sie sich entschieden, damit ihre Kinder im Grünen aufwachsen können. "Sie werden sicher im Fußballverein spielen." Seine Frau hätte vielleicht Lust, sich ehrenamtlich zu engagieren, was sie bereits in anderen Bereichen tut. Ob er selbst auch Mitglied in einem Verein wird? "Mal sehen", sagt er.

Anderswo in Deutschland kämpfen Gemeinden gegen Überalterung und Dorfsterben. In München und seinem Umland klingt das nur nach einer Dystopie, die niemals eintreten wird. Hier müssen die sich Kommunalpolitiker stattdessen fragen, wie sie Wachstum und rasant steigenden Baupreisen begegnen sollen. "Diese sogenannten Dörfer sind schon lange keine Dörfer mehr", sagt Stadtplaner Thierstein von der TU.

Als Schweizer hat er sich die nötige Distanz bewahrt. "Manche Bürgermeister und Politiker tun so, als könnte man etwas bewahren, das sich schon lange verändert hat". Da werde Dorf gespielt. "Natürlich machen da immer noch dieselben mit, die schon immer da gewohnt haben, die gelten dann als Dörfler", sagt er. Es sei Aufgabe der Bürgermeister, auch die Neuen in den Gemeinden mit ihren Kompetenzen, aber auch ihren Bedürfnissen zu integrieren. Das seien nämlich nicht diejenigen, die ihr Leben lang den Trachtenverein unterstützen, sagt Thierstein.

"Damit Oberhaching für Sie lebendige Heimat wird"

Stefan Schelle in Oberhaching, 2018

Der Veränderung am Ort begegnen will Bürgermeister Stefan Schelle.

(Foto: Stefanie Preuin)

Oberhachings Bürgermeister Stefan Schelle will jedenfalls verhindern, dass die Dorfgemeinschaft absorbiert und immun gegen die Befürchtungen der Vereinsvorsitzenden wird. Vor einigen Monaten hat der CSU-Politiker dem Magazin Spiegel gesagt: Der Druck auf den Immobilienmarkt "gefährdet unsere Identität". Der Dax-Vorstand sei in Oberhaching herzlich willkommen, "aber der macht uns nicht den Jugendtrainer beim Fußballverein." Die Vereine als Dienstleister - in Anspruch genommen von denen, die das gesellschaftliche Angebot als Einbahnstraße betrachten.

Wenige Wochen später sitzt Schelle am Besprechungstisch in seinem Büro im Rathaus. Auf dem Tisch steht Filterkaffee, draußen ist es bereits dunkel geworden. Für ihn steht fest: "Oberhaching ist kein gesichtsloser, anonymer, austauschbarer Vorort von München." Eine Gemeinde entwickle dann eine eigene Identität, wenn Menschen diese als eigene Heimat begreifen. "Gleichgültigkeit und Egoismus zerstören eine Gemeinde", sagt er.

Weil sich das Problem mit den hohen Preisen schon lange angebahnt hat und es sogar Doppelverdiener schwer haben, sich ein Eigenheim zu leisten, gibt es in der Gemeinde seit vielen Jahren ein sogenanntes Einheimischenmodell. Schelle verteidigt es geradezu dogmatisch. Die Entwicklung irgendwie aufhalten und auch normalen Leuten das Leben hier ermöglichen - es wurde zu seinem Paradigma.

Mit dem Konzept sollte es vorrangig Ortsansässigen ermöglicht werden, zu einigermaßen normalen Konditionen Wohneigentum zu erwerben. Weil allerdings die EU-Kommission dahinter Ungleichbehandlung witterte, leitete sie 2009 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein. Im Mai 2017 konnten sich schließlich das Bundesbauministerium und der Freistaat Bayern mit der Kommission einigen. Von nun an wurden neben der langjährigen Ortsansässigkeit auch Engagement in den Vereinen berücksichtigt: Einheimischenmodell light.

Gut für Schelle und viele seiner Amtskollegen. Das Konzept sei ein wichtiger Baustein, um die soziale Struktur zu erhalten, sagt er. Die Hürden sind dennoch hoch. Als 2016 Doppelhausgrundstücke vergeben wurden, suchte man Bewerber zwischen 21 und 60 Jahren mit mindestens einem Kind oder "nachgewiesener Schwangerschaft", die entweder zehn Jahre ununterbrochen in der Gemeinde arbeiteten oder mehr als fünf Jahre dort lebten. Er und die Gemeinderäte hätten bei den Kriterien Wert darauf gelegt, dass unter anderem Familien mit Kindern gute Chancen haben.

Im vergangenen Jahr mussten allerdings fünf von 19 Häusern im Bieterverfahren verkauft werden, weil im Rahmen des Kriterienkatalogs nicht genügend solvente, kinderreiche Einheimische gefunden wurden. Das Angebot stellte sich als zu teuer für viele Oberhachinger heraus.

Seit 2002 ist Stefan Schelle nun Chef im Rathaus. Den typisch oberbairischen Zungenschlag hat er sich bewahrt. Er mache keinen Unterschied zwischen neuen und alten Bürgern, sagt er - sondern "zwischen einem Einwohner, der hier nur wohnt, und einem Bürger, der sich in die Gemeinschaft einbringt und engagiert". Der Rathauschef pflegt eine Facebook-Seite namens "Stefan Schelle, unser Bürgermeister von Oberhaching". Dort muss er auch Kritik einstecken, etwa beim Thema Einheimischenmodell: "Herr Schelle, Sie sind echt witzig. Wer bitte ist denn noch groß Einheimischer in Oberhaching?", schrieb mal jemand.

16 Jahre im Amt zeigen jedoch, dass sein Erfolgsrezept der Volksnähe bestens funktioniert. Wer ihn als Provinzler abtut, unterschätzt ihn. Schelle bedient sich gerne bei den großen Denkern: Wenn er niveaulose Meinungsschlachten in sozialen Netzwerken anprangert, zitiert er den Bayernkönig Ludwig I., will er die Unwissenheit der Stadtplaner beanstanden, greift er zu Albert Einstein.

In seiner Freizeit liest er das Buch "Bowling alone" von Robert D. Putnam, der darin beschreibt, dass Leute, die alleine zum Bowling gehen, sich selten sozial engagieren - und so analysiert, wie Veränderungen in der US-amerikanischen Gesellschaft vonstatten gehen. Im Buch geht es vor allem um den Niedergang der Vereinskultur als Indikator für den sozialen Wandel.

"Wenn jemand 60 bis 70 Stunden in der Woche arbeiten muss, dann wird das mit einem Ehrenamt zwar schwierig, aber nicht unmöglich.", sagt Schelle. Er wird nicht müde zu betonen, dass die, die sich hier teure Häuser leisten, sich nicht zwangsläufig weniger engagieren. Aber er räumt ein: "Die Hoffnung haben jetzt wohl alle nicht, dass in absehbarer Zeit die Immobilienpreise sinken." Also überlegte der Bürgermeister vor vielen Monaten, wie er dagegen angehen könnte. Im September schrieb er auf seiner Facebook-Seite einen Appell an die Öffentlichkeit. Zwischen den Zeilen steht der Verdacht, die Neuen im Ort hätten womöglich einfach Hemmungen, im Verein aufzuschlagen:

Nach mehr als vier Monaten nennt er die Bilanz seiner Bin-dabei-Aktion ganz in Ordnung. Bisher hätten sich ungefähr zehn Leute gemeldet. Demnächst würden die Gespräche geführt, um die Interessenten an Vereine zu vermitteln. Zehn von ungefähr eintausend, die jedes Jahr nach Oberhaching ziehen. Das klingt nicht viel, doch Schelle gibt sich positiv: "Es sind zehn Chancen für Oberhaching."

In der Gemeinde hat man sich also für ein Kompositum aus Einheimischenmodell und Partnervermittlung für Vereine entschieden, um den Nebenwirkungen der hohen Immobilienpreise zu begegnen. Oberhaching, so möchte er verstanden werden, will einen Weg finden, auch Normalverdienern etwas zu bieten. "Ich bin Optimist, wahrscheinlich eine Berufskrankheit", sagt Schelle.

Das muss er auch sein, denn aus seiner Sicht steht einiges auf dem Spiel. "Wenn Gemeinschaften im Ort auseinanderfallen, weil es mit dem Ehrenamt für einige zu viel wird, dann können wir das nicht mehr reparieren. Dann verlieren wir ein Stück Identität.

Oberhaching: Von der Stadt in den Speckgürtel

München wächst und Miet- und Kaufpreise steigen immer weiter. Immer mehr Menschen ziehen deshalb ins Umland der Stadt - etwa nach Oberhaching.

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