"Verbunden werden auch die Schwachen mächtig." Friedrich von Schiller (1759 - 1805), aus Wilhelm Tell, 1. Akt, 3. Szene
Nikolaus Aidelsburger war 36 Jahre lang Bürgermeister von Oberhaching. Zu seiner Beerdigung an einem heißen Junitag vor sechs Jahren kamen Gott und die Welt und erwiesen dem Verstorbenen die letzte Ehre. "Eingraben" sagen sie hier, wenn jemand beerdigt wird. Fahnenabordnungen aller Vereine marschierten dem Trauerzug zum Friedhof voraus, dahinter der halbe Ort in Tracht und Uniform.
Mehr als 500 Leute waren gekommen, seine Beisetzung ähnelte einem Staatsbegräbnis. Die roten Helme der Feuerwehrmänner, die am Sarg Spalier standen, leuchteten wie Fliegenpilze in der Sonne. Neben dem Rednerpult war ein Blumenbouquet aus Hortensien in Weiß und Blau arrangiert - den Farben im Wappen von Oberhaching. Es war noch einmal ein Hochfest der Dorfgemeinschaft.
Im Laufe der Zeit hat sich die Gemeinschaft verändert, findet Florian Schelle.
(Foto: Stefanie Preuin)Florian Schelle hielt eine Ansprache am Grab. Er kannte Aidelsburger, seit er denken konnte. 30 Jahre lang war der Landwirt Gemeinderat. Als er sich 2014 nicht mehr zur Wahl aufstellen ließ, hatte er mehr Lebensjahre im Amt verbracht als ohne. Politisch einig seien sich er und Aidelsburger gewiss nicht immer gewesen, sagt Schelle heute, obwohl sie beide Mitglied der CSU waren. Aber auch wenn es im Gemeinderat mal turbulent wurde: Danach gingen sie trotzdem zusammen ins Wirtshaus.
Seit der Beerdigung sind sechs Sommer vergangen. Wer zurückblickt, dem kommt es so vor, als wäre mit Aidelsburger auch eine Epoche zu Grabe getragen worden. Denn seither hat sich manches verändert in der Gemeinde im Münchner Süden, die wie gemalt zwischen dem Stadtrand und dem Tölzer Voralpenland liegt. Die immer schneller steigenden Immobilienpreise haben einiges ins Wanken gebracht.
Wer ein Einfamilienhaus in Oberhaching kauft, muss heute doppelt so viel bezahlen, wie 2012. Der durchschnittliche Kaufpreis von Einfamilienhäusern hat 2017 erstmals die Millionenmarke durchbrochen. "Früher, wenn die Leute Lehrer waren oder bei BMW gearbeitet haben, konnten sie sich hier ein Haus leisten", sagt Florian Schelle. Heute sei das anders. Manche sagen, dass Oberhaching zum zweiten Grünwald werden könnte. Die Millionärs- und Promi-Gemeinde im Isartal liegt nur wenige Autominuten entfernt.
Seit die Wohnungspreise in der Stadt explodieren, ziehen immer mehr Menschen ins Umland, und die, die es sich leisten können, bevorzugt nach Oberhaching. Die Lebensqualität in der 13 500-Einwohner-Gemeinde ist hoch: Es gibt zahlreiche Vereine, weiterführende Schulen, ein Freibad und außer der S-Bahn ist auch die Autobahn nicht weit, über die man schnell in der Stadt und in den Bergen ist - wenn es sich nicht gerade staut. Das Problem: Auch andere merken, dass es sich hier gut lebt. Immer mehr kommen, denen München zu laut oder zu eng ist.
Langsam spüren sie hier die Folgen: "Die, die schon lange dabei sind, haben eine Dorfgemeinschaft. Und die, die herziehen, wollen damit meistens nichts zu tun haben", sagt Schelle, der Landwirt. Seinen Namen kennt man hier. Er betreibt mit seiner Frau eine Pferdezucht mit Frühstückspension. Der Türknauf zum Eingang seines Hauses ist ein Ross aus Messing, das auf den Hinterbeinen steht. 20 Pferde stehen in den Ställen des kernigen Bayern. Der Name der Rasse: Süddeutsches Kaltblut. Es gibt sogar eine Straße, die "Am Schelleberg" heißt. Dort leben drei Brüder und zwei Cousins mit ihren Familien, alle haben den gleichen Nachnamen. Einer von ihnen ist der Bürgermeister.
Seit 46 Jahren ist Florian Schelle schon Mitglied im Trachtenverein von Oberhaching, zunächst als Schuhplattler und seit 22 Jahren als dessen Vorsitzender. Die Trachtler sind ein wichtiges Glied im örtlichen Kollektiv. "Wir haben für alles Mögliche einen Verein", sagt Schelle. Er erklärt das so: Nach dem Krieg besaß kaum einer was, die Leute hätten sogar ins Wirtshaus ihren selbstgebrannten Fusel mitgebracht. Aus dem Bedürfnis, etwas neu aufzubauen, entstanden die Vereine.
Doch diese im Laufe der Zeit gewachsene Gemeinschaft verändert sich: Vereinen kommen Mitglieder abhanden, weil die zugezogenen Bürger nicht eintreten. Sein Trachtenverein sei noch einigermaßen gut aufgestellt, sagt Schelle. Nur junge Männer hätten irgendwie keine Lust. Denn: "Alles was zwei Hax'n hat, spielt Fußball. Ist halt die Ersatzreligion."