Süddeutsche Zeitung

Ukraine:"Wir haben jetzt keine Zeit zu weinen"

Neben der Katastrophe und dem Leid sieht man in diesen Tagen auch noch etwas anderes: Solidarität. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer in München versuchen, aus der Ferne zu helfen.

Von Lisa Miethke und Lea Mohr

Seit vergangenem Donnerstag ist die Welt eine andere. Es herrscht Krieg in der Ukraine. Neben dem Leid, das diese Katastrophe verursacht, sieht man in diesen Tagen allerdings auch noch etwas anderes: Solidarität. Auch in München leben zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer, die aus der Ferne versuchen, zu helfen. Mit drei von ihnen haben wir gesprochen.

Von Pflastern bis zu Ultraschallgeräten

Als am vergangenen Donnerstag gegen vier Uhr die erste Bombe auf die Ukraine fiel, saß der Ukrainer Yurii Kechur in einem Reisebus nach München. "Ich bin wach geworden, weil mein Handy überhaupt nicht mehr aufgehört hat zu klingeln", erzählt der 22-Jährige. Viele Freunde hätten ihn angerufen und sie alle hätten das gleiche gesagt: "Die Ukraine wird bombardiert." Weil er wusste, dass seine Eltern in Sicherheit sind, hat er sofort versucht, seine Oma zu erreichen, um sicherzugehen, dass es ihr gut geht. Aber niemand sei ans Telefon gegangen. "Sie hat sich in einer Tiefgarage versteckt und hatte deshalb kein Netz", erzählt er. "Die Spannung und Angst, die ich in diesen Momenten gespürt habe, werde ich nie vergessen."

Seine Schwester Daryna Kechur, 24, erfuhr erst am nächsten Morgen vom Angriff Russlands. "Ich bin aufgewacht und habe, nachdem ich die vielen Anrufe sah, sofort die Nachrichten angemacht", erzählt sie. Im Gegensatz zu ihrem Bruder sei sie nicht schockiert gewesen. "Natürlich habe ich auch sofort versucht, meine Familie zu erreichen, aber eigentlich wussten alle Ukrainer, dass Russland angreifen wird", sagt sie. Seit diesen Momenten ist das Leben der Geschwister ein anderes. Innerhalb weniger Stunden haben sie begonnen, Demonstrationen zu organisieren und Sachspenden zu sammeln. Yurii Kechur gründete noch am gleichen Tag die Instagram-Seite Mucraine, durch die er ganz München über die nächsten Demonstrationen und wichtigsten Anlaufstellen informiert. Daryna Kechur hingegen sammelt über ihre 2016 gegründete Organisation "Teaching Medical Skills" medizinisches Material und Medikamente, um die Kliniken und Soldaten vor Ort auszustatten.

Wenn Daryna und Yurii Kechur von den Ereignissen der vergangenen Tage und Wochen erzählen, fällt vor allem eines auf: ihre Stärke. Immer wieder betonen sie, dass man nun handeln müsse. "Wir haben jetzt keine Zeit zu weinen", sagt Daryna Kechur. "Wir müssen arbeiten und alles dafür tun, um den Ukrainern vor Ort zu helfen."

Die Geschwister kommen aus Lwiw, einer Stadt im Westen der Ukraine. Daryna Kechur studiert seit 2016 Medizin in München, ihr Bruder kam 2018 nach, ebenfalls fürs Medizinstudium. Beide werden von der Hanns-Seidel-Stiftung unterstützt, arbeiten zurzeit an ihrer Promotion. "Wenn wir mit unserer Ausbildung fertig sind, werden wir aber wieder zurückgehen", sagt der 22-Jährige. Sie seien Patrioten, ebenso wie ihre Eltern, die sich deshalb auch weigern würden, die Ukraine zu verlassen.

Nach nur einem Monat in Deutschland rief Daryna Kechur 2016 die Organisation "Teaching Medical Skills" ins Leben. Ihr Bruder ist Mitgründer. Von Deutschland aus bieten sie mithilfe von mehr als 50 Tutoren Vorlesungen in der Ukraine an, um die Qualität der medizinischen Ausbildung vor Ort zu verbessern. "Unser Programm umfasst über 200 Vorlesungen, die schon an die 1000 Mal gehalten wurden", erzählt die 24-Jährige. Heute arbeiten sie mit Vereinen wie der Ukrainischen Ärztevereinigung in Deutschland e.V. zusammen. Sie sind es unter anderem auch, die die junge Organisation in den vergangenen Tagen bei dem Transport der Spenden unterstützt. "Die Medikamente und Geräte werden bis zur polnischen Grenze gefahren. Dort gibt es einen humanitären Korridor, über den die Spenden dann in die Ukraine gelangen", erzählt sie. Was benötigt wird, wissen sie über einen Kontakt zum ukrainischen Gesundheitsministerium. Von Pflastern bis zu Ultraschallgeräten ist alles dabei.

Natürlichen hätten sie Angst um ihre Freunde und Familienmitglieder, die entweder auf der Flucht seien oder in der Heimat blieben, erzählen die Geschwister. "Die Zeit zu handeln war vor Wochen, aber jetzt können wir noch unglaublich viel tun, um zu retten", sagt Daryna Kachur. Die Geschwister hoffen, dass weiterhin zahlreiche Menschen auf ihre Demonstrationen kommen und spenden werden. Ihr Appell: "Wir brauchen euch. Vergesst nie, was in diesen Tagen passiert."

"Wir wollen den Krieg so schnell wie möglich beenden"

Eine, die sich ähnlich wie die Kechur-Geschwister für Menschen in Not einsetzt, ist Anna Rai. Die 31-Jährige kommt selbst aus der Ukraine, lebt seit über sechs Jahren in München. Auch sie stand am Samstag zwischen tausenden Menschen auf dem Stachus. Demonstrierte gegen den Krieg in ihrer Heimat. Und merkte schnell: "Ich will mich nicht nur hinstellen, ich will etwas tun", sagt Anna. Noch in der gleichen Nacht gründete sie zusammen mit neun anderen befreundeten Ukrainern und Russen aus München die Hilfsgemeinschaft "Help Ukraine". Seit mehreren Tagen sammeln sie nun Sachspenden wie Lebensmittel, Decken und Medizin, die sie in eigener Hand an die polnische Grenze fahren, übersetzen ukrainische Nachrichten ins Deutsche, um den Informationsaustausch zu erleichtern, versuchen Menschen zu finden, die Flüchtenden eine Unterkunft bieten können. Auf ihrer Website erklären sie, wie man als Einzelperson helfen kann. Ihr gemeinsames Ziel? "Wir wollen den Krieg so schnell wie möglich beenden", sagt Anna. Doch wie soll das von Deutschland aus zu schaffen sein? Ein Anruf bei Anna.

Sie klingt abgekämpft, als sie ans Telefon geht. Mehr als zwei bis drei Stunden habe sie die vergangenen Nächte nicht geschlafen. Dafür blieb kaum Zeit. Seit Samstag hätten mehrere hundert Menschen bei ihr zu Hause Spenden vorbeigebracht, inzwischen seien sie auf ein größeres Lager in der Einsteinstraße 96 ausgewichen. In eigener Hand haben sie und ihr Team Fahrer, Busse und Lastwagen organisiert.

Als Anna die Nachricht erreichte, dass Russland die Ukraine angreift, begann sie zu weinen. Rief sofort ihre Mutter und ihre Freunde in der Heimat an. Sie sagt: "Das Warten ist gerade das Schrecklichste. Manchmal höre ich zehn Stunden lang gar nichts und warte auf eine kurze Nachricht oder einen Anruf. Und hoffe: Hauptsache, sie leben."

Die 31-Jährige sagt: "Aber wir können es jetzt nicht ändern, deshalb versuche ich wenigstens aus der Ferne so viel zu helfen, wie es nur geht." Obwohl die Situation für sie und ihre Helfer und Helferinnen natürlich dramatisch sei, sei sie dennoch auch gerührt von der Solidarität, die sie in den vergangenen Tagen erfahre. Die Hilfsbereitschaft gibt Anna Mut. "Wir haben uns alle in München integriert, wir mögen diese Stadt und wir sind stolz darauf, dass uns so unglaublich viele Menschen unterstützen."

Wie viele Ukrainer hofft Anna Rai, dass der Krieg nicht mehr lange gehen wird. Solange versucht sie, sich und ihrer Familie Mut zu machen. "Für uns ist wichtig, dass Deutschland als Land und als unser Freund versteht, dass man mit Putin nicht mehr diplomatisch reden kann. Wir tun alles, was wir können. Es ist längst kein ukrainisches Problem mehr, sondern eines, das uns alle betrifft."

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