Vor kurzem hat der elf Jahre alte Anton ein Referat über den Bayerischen Wald gehalten. In der Ukraine nicht weit von der russischen Grenze geboren, in Kiew aufgewachsen, vor einigen Monaten vor dem Krieg geflohen; und nun steht er hier, in einem Gymnasium im Münchner Osten, und spricht über den Bayerischen Wald. Auf Deutsch.
Anton ist einer von 19 Schülern und Schülerinnen der Brückenklasse am Michaeli-Gymnasium. Sie sind zwischen zehn und 16 Jahre alt, kommen aus Kiew, Odessa und Dnipro, und nun sitzen sie in einer Klasse und werden in Deutsch, Englisch, Mathe, Biologie und Geografie unterrichtet. Mit den deutschen Schulkindern gemeinsam haben sie Sport, Musik, Kunst oder auch Englisch und Französisch.
Je besser die Deutschkenntnisse, desto mehr Zeit verbringen die ukrainischen Mädchen und Jungen im regulären Unterricht. "Die Kinder sollen aus den Brückenklassen herauswachsen. Unser langfristiges Ziel ist es, sie komplett zu integrieren", sagt Schuldirektor Frank Jung. Was sie dafür vor allem brauchen, ist Zeit. Die Kinder haben viel erlebt, viel gesehen. Viele beginnen erst jetzt, nach mehreren Monaten, sich zu öffnen, kommen allmählich an, fangen an, zu lernen.
Etwa 2000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine besuchen im Moment die öffentlichen Münchner Schulen. Das sind knapp zwei Prozent aller Schülerinnen und Schülern. Wichtigstes Ziel: schnell Deutsch zu lernen. Die jüngeren Kinder, etwa die Hälfte, besuchen den normalen Grundschulunterricht. Einige, die schon gut Deutsch sprechen, besuchen den Unterricht an den weiterführenden Schulen.
Die anderen rund 1000 Kinder und Jugendlichen besuchen seit Herbst eine der aktuell 63 Brückenklassen, die an Mittelschulen, Realschulen und Gymnasien aufgebaut wurden. Egal welche Schulart: Der Unterricht in den Brückenklassen soll überall der gleiche sein. Auf welche Schule die Kinder danach gehen, soll sich im Mai entscheiden, wenn die Lehrkräfte jedem Kind eine Empfehlung geben.
Newsletter abonnieren:München heute
Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.
Besonders am Anfang gab es Probleme mit den Brückenklassen, räumt Bettina Betz, Leiterin des Staatlichen Schulamtes, ein. Es sei schwierig gewesen, Lehrkräfte zu finden. Und manche von ihnen seien überfordert gewesen, hätten nicht gewusst, wie sie in den altersgemischten Klassen Kindern mit völlig unterschiedlichen Lernständen Wissen vermitteln sollen.
"Es ist eine Herausforderung, die unterschiedlichen Kinder so zu fördern, dass keine Langeweile und keine Disziplinschwierigkeiten entstehen", sagt Betz. "Wenn die Kinder miteinander Ukrainisch sprechen, dann hat es der Lehrer nicht leicht." Und Deutsch lernen gelinge nicht so schnell wie in den Regelklassen oder in Deutschklassen, in denen alle Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Sprachen sprechen. Was Bettina Betz gut findet: Dass alle Schulen ukrainische Kinder aufnehmen. "Bislang war Integration eine Aufgabe der Grund- und Mittelschulen. Deutschklassen gab es nicht an Realschulen und Gymnasien. Nun tragen alle Schularten diese Last."
Die Idee der Brückenklassen war, dass die Kinder und Jugendlichen dort ein Jahr Deutsch lernen und dann in eine reguläre Klasse wechseln - je nach Leistungsstand. Vergangene Woche änderte das Kultusministerium die Vorgabe: Wer noch nicht gut genug Deutsch spreche, bleibe erst einmal in einer der "bewährten Brückenklassen".
Der Lehrer- und Lehrerinnenverband übt Kritik an den Brückenklassen
Martin Schmid, Vorsitzender des Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverbands, sieht die Brückenklassen kritisch. "Die musste man nur erfinden, weil man die Deutschklassen vorher extrem reduziert hat", schimpft er. Nun säßen Kinder unterschiedlichen Alters zusammen, Klassen würden von Studenten und Aushilfskräften unterrichtet, da leide die Qualität. "Unterbringen können wir die Kinder schon. Aber sie zu integrieren, das ist etwas anderes."
Maria Degtiarenko aus Odessa leitet seit April die Sprachschule Dusmo in München, Ukrainerinnen und Ukrainer jeden Alters belegen hier Deutschkurse, finanziert wird der Unterricht über Spenden. "Es wird sehr viel gemacht für die ukrainischen Kinder", sagt sie. Ihre Tochter sei in ihrer Grundschulklasse herzlich aufgenommen worden, nun sei sie Gastschülerin an einem Gymnasium und ihr Deutsch werde immer besser. "Sie imitiert sogar schon die Sprachmelodie." Sie findet es wichtig, dass ukrainische und deutsche Kinder miteinander in Kontakt kommen, damit sie die Sprache schneller lernen, Freunde finden, ankommen.
Semen, Veronika und Maria aus der Brückenklasse des Michaeli-Gymnasiums kennen zwar Kinder aus anderen Klassen, erzählen sie. Nur sei die Kommunikation oft noch schwierig: "Ich verstehe manches, aber sie reden so schnell", sagt der 13-jährige Semen. Aus der ganzen Gruppe ist es der elfjährige Anton, der die meisten Unterrichtsstunden in einer regulären Klasse besucht, obwohl er einer der Jüngsten ist. "Er hat so einen starken Willen zu lernen und in die Regelklasse aufgenommen zu werden", sagt Silke Douglas-Kloninger, Koordinatorin für die Brückenklasse.
Nicht bei allen laufe es so problemlos, erzählt sie. "Etliche Kinder wollen nicht hier sein, wollen nicht hier zur Schule gehen, sie wollen zurück nach Hause." Kinder verweigerten den Unterricht, die Mütter waren verzweifelt, dann noch die Sprachbarriere. "Es war eine sehr herausfordernde Zeit für uns alle", sagt Douglas-Kloninger. Und sie kritisiert, dass es keine psychologische Unterstützung für die Lehrkräfte gibt, keine Supervision. "Wir sind ganz dicht dran an den Kindern und ihren Gefühlen. Und wir müssen das alles auffangen."
Und dann kam im Januar ein Päckchen aus der Ukraine am Michaeli-Gymnasium an. Ein Vater, Fotograf von Beruf, nun im Sanitätsdienst, schickte Fotografien aus der Ukraine. Auf eine Karte hat er geschrieben: "from Kyiv with love". Als Dankeschön, dass sie sich hier so gut um seine Tochter kümmern. "Ich hab zuhause erstmal geheult", sagt Douglas-Kloninger. Und sie hat wieder gewusst, wofür sie das alles macht.