Süddeutsche Zeitung

Design-Abschlussarbeit:Weil sich jeder nach einer Heimat sehnt

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Als 2022 Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, beschlossen die Designstudenten Anastasia Litwinow und Robert Kwaß, aktiv zu werden - um zu helfen, ihre eigene Herkunft zu hinterfragen und um Geflüchtete zu porträtieren. Nun ist aus ihrer Abschlussarbeit das Buch "Zuflucht & Solidarität" entstanden.

Von Leila Herrmann

Ein kahlköpfiger Mann mit leicht grauem Bart und schwarzem Langarm-Shirt schaut direkt in die Kamera. Sein Blick ist durchdringend und leer. Hinter ihm erstreckt sich ein strahlend blauer Himmel, von dem ihn jedoch ein Bauzaun trennt. "Das war unser erstes Interview", erzählt Robert Kwaß, 22, und blickt auf das Foto des Geflüchteten. Es wurde vor genau einem Jahr vor einer notdürftigen Unterkunft in München, einer Turnhalle im Hasenbergl, aufgenommen. Dort kamen viele Menschen an, die nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind. Zusammen mit Anastasia Litwinow, 24, hat Robert ukrainische Geflüchtete für ihre gemeinsame Abschlussarbeit an der Designschule München porträtiert. Daraus ist das Buch "Zuflucht & Solidarität" entstanden.

An einem Samstag im März in der Buchhandlung Rauch & König, wo dieses Buch nun zu kaufen ist, erzählen Robert und Anastasia bei einem Espresso von ihrem Projekt. Für ihre Abschlussarbeit haben sie zwölf Wochen lang, von Anfang März bis Ende Mai 2022, Interviews mit Geflüchteten geführt, während sie selbst auch als Helfer in den Unterkünften tätig waren. "Es war unser Bedürfnis, wirklich aktiv dabei zu sein und die Geschehnisse nicht nur als Außenstehende wahrzunehmen und zu dokumentieren", sagt Anastasia.

Die beiden haben bei der Essensausgabe und bei der Vermittlung von Unterkünften geholfen. "Das war damals alles sehr überwältigend", sagt Robert, "und sehr chaotisch." Anastasia ergänzt: "Die Geflüchteten wurden in Turnhallen untergebracht und haben selbst nicht gewusst, wo es danach für sie hingeht." Es gab verschiedene kleinere Stationen in der Stadt, bis schließlich eine größere in der Messestadt aufgebaut wurde. "Diese Unterkünfte waren sehr provisorisch", sagt Robert. Das Wort benutzt er oft. Wahrscheinlich, um die Umstände deutlich zu machen: provisorische Feldbetten, provisorische Trennwände, viele Menschen, ein wahnsinniger Lärm.

Bei der Unterkunftsvermittlung hat Anastasia das Dolmetschen und Robert die Organisation übernommen. Ihr Job war es, die Verbindung herzustellen zwischen jenen Familien, die eine Bleibe anboten, und jenen, die eine suchten. "Die Situation war sehr vielschichtig, da man zum Beispiel auch Fragmente von Rassismus sehen konnte", sagt Anastasia. "Es war ziemlich ironisch, wie selektiv die Menschen in ihrer Solidarität waren." Daraus hat sich auch der Titel ihrer Arbeit entwickelt.

"Mein Plan war schon länger, dass ich mich in meiner Arbeit mit meiner eigenen Familiengeschichte beschäftige", sagt Anastasia. Auf die Geschichte der Spätaussiedler, da ihre Familie zum Teil aus Russland und zum Teil aus Georgien kommt. Sie selbst ist im Münchner Umland aufgewachsen und identifiziert sich nicht komplett deutsch oder komplett russisch. "Wenn ich mich tiefgehender damit beschäftige, fühlt es sich so an, als würde ich zu keiner Seite gehören, als wäre ich verloren zwischen zwei verschiedenen Kulturwelten" , sagt sie. Aber genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Abschlussarbeit angefangen hat, ist auch der Krieg ausgebrochen. Sie fand es wichtig, sich damit zu beschäftigen.

Der Solidaritätsgedanke war auch bei Robert da. "Schon vor Kriegsbeginn wusste ich, dass das Thema meiner Abschlussarbeit Solidarität sein soll", sagt er. Er wusste nur noch nicht, wie genau. Der Krieg hat ihn dann sehr mitgenommen. Um sich abzulenken, wollte er helfen. Er erzählt von einem Ukrainer, den er porträtiert hat. Dieser war jeden Tag als Dolmetscher in den Camps tätig, da er Englisch, Russisch, Ukrainisch und Arabisch spricht, er ist selbst geflüchtet. Später im Interview hat er Robert und Anastasia erzählt, dass er einfach eine Beschäftigung gebraucht hat, "damit der Kopf sich nicht in diesen dunklen Gedanken verliert", gibt Robert wieder. "Und das war bei mir ähnlich."

"Wir beide hatten das Gefühl, dass das Projekt ohne den anderen nicht möglich wäre."

Anastasia hatte aber noch eine andere Motivation: ihre Schuldgefühle. "Dass ich so einen Drang empfand mitzuhelfen, lag sicher auch an den Schulgefühlen, die ich aufgrund meiner Herkunft hatte", erzählt sie, erst verlegen, dann bestimmt. "Einige entfernte Verwandte von mir in Russland sind der russischen Propaganda total verfallen." Das hat sie aufgewühlt. Da die meisten Ukrainer Russisch sprechen, "war es einfach sinnvoll, diese Fähigkeit, die ich habe, für eine gute Sache anzuwenden." Also hat sie sich mit ihrer Familiengeschichte doch ein Stück auseinandergesetzt.

Die Aufgabenteilung war wie folgt: Anastasia hat die Interviews geführt, Robert die Fotos gemacht. "Wir beide hatten das Gefühl, dass das Projekt ohne den anderen nicht möglich wäre", sagt Robert. Auch jetzt, wo sie in der Position der Befragten sind, spürt man diesen eingespielten sorgsamen Umgang miteinander. Sie lassen sich ausreden, ergänzen sich, wo es nötig ist. Auch auf emotionaler Ebene konnten sie sich unterstützen. "Wenn man sich mit einem so heiklen Thema auseinandersetzt, hat man oft Angst, den Menschen, die einem so ein Vertrauen entgegenbringen, nicht gerecht zu werden", sagt er. "Eine zweite Person kann da sehr beruhigend sein."

Die Interviews hat Anastasia nur mit "Menschen, die in der Verfassung zu reden waren oder mit denen ich eine Connection aufgebaut habe", geführt. Etwa die Hälfte der Leute, die gefragt wurden, haben zugestimmt. "Uns war es war auch sehr wichtig, dass sie sich damit wohlfühlen", ergänzt Robert. "Es gab Menschen, denen es dann doch unangenehm war, fotografiert zu werden", sagt er und zeigt zwei Bilder, auf denen Menschen nur von der Seite und von hinten zu sehen sind. "Das erzählt so aber auch eine Geschichte."

"Ich bin zwar nicht geflohen, aber trotzdem habe ich einen heimatlichen Schmerz gespürt."

Anastasia hat immer versucht, vorsichtig mit dem Thema ihrer Herkunft umzugehen. Zu Beginn des Gesprächs hat sie erst mal gesagt, dass sie hier in Deutschland geboren wurde. "Ich habe aktiv vermieden, das Wort 'russisch' zu benutzen - um mich selbst zu schützen und gleichzeitig, um die Leute nicht zu triggern." Die ukrainischen Geflüchteten haben nie aggressiv reagiert. "Sie haben russische Politik und Bevölkerung immer getrennt", sagt Anastasia. Die Menschen waren eher verzweifelt und verloren.

"Bei jedem Gespräch habe ich mich über die Sprache sehr verbunden mit den Personen gefühlt", sagt sie. "Ich bin zwar nicht geflohen, aber trotzdem habe ich einen heimatlichen Schmerz gespürt." Robert stimmt ihr zu. "In den Interview-Situationen war meist schnell eine Verletzlichkeit zwischen Fragestellern und Befragten wahrzunehmen", sagt er. "Da ich meist die Fotos im Anschluss an das Interview gemacht habe, sind alle Fassaden gefallen, die die Menschen sonst haben."

Das Buch mit 243 Seiten sieht aus wie ein schwarzer Aktenordner. Robert und Anastasia haben sich für dieses Design entschieden, um den Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten spürbar zu machen. "Das Buch zeigt eine Realität, die sowohl unmenschlich, als auch super hilfreich ist", sagt Robert. Den Menschen wurde in Deutschland geholfen, auch wenn es sehr bürokratisch zuging. Der Ordner könnte einer von vielen sein, "ein Tropfen in einem Meer an Geschichten", sagt er, "nur ein Bruchteil von Erlebnissen, die es wirklich gibt."

Die Interviews haben sie immer in der Muttersprache des Befragten und zusätzlich auf Deutsch veröffentlicht. "Es ist ein Versuch, die lesende Person, die Deutsch als Muttersprache hat, in die Situation hineinzuversetzen, wie es ist, eine Sprache nicht zu verstehen", sagt Anastasia. Außerdem haben sie "die Gespräche unverfälscht abgedruckt", erzählt Robert. "Wenn man die Texte liest, hat man das Gefühl, man spricht selbst mit diesen Leuten." Es ist ein Versuch, die Menschen einander näherzubringen. Und ein Versuch, zu zeigen, dass sich alle nur nach einer Heimat sehnen.

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