Winterschule Ukraine:Orte als Anker

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Hier wird auch das Nationalgericht Wareniki gekocht: Die ukrainisch-griechisch-katholische Kirchengemeinde Maria Schutz und St. Andreas in Harlaching ist für die Ukrainer in München ein sozialer Anker. (Foto: Stephan Rumpf)

Ein Spaziergang mit LMU-Dozent Peter Hilkes durch das ukrainische München zu Orten, deren historische und kulturelle Bedeutung durch den Krieg mehr Aufmerksamkeit erfährt.

Von Anna Nowaczyk

Etwas außerhalb liegt es schon. Gute 30 Minuten sind es mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Hauptgebäude der Universität bis zu dem unauffälligen Haus in Nymphenburg. "Man findet ukrainische Orte in München, wenn man weiß, wo sie sind", sagt Peter Hilkes. Mit einer rund 20-köpfigen Gruppe steht er vor dem Haus, das seit 1945 den Sitz der Ukrainischen Freien Universität bildet.

Der Ausflug ist Teil des akademischen Programms der "Winterschule Ukraine", welche die Ludwig-Maximilians-Universität diesjährig zum vierten Mal in Kooperation mit der Universität Regensburg, dem Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa-Forschung und der Ukrainischen Freien Universität veranstaltet hat. Für fünf Tage nahmen Interessierte an wissenschaftlichen Vortragsreihen zur ukrainischen Sprache, Geschichte, Kultur und Wirtschaft teil, besuchten Podiumsdiskussionen und Literaturabende wie die Lesung der ukrainischen Schriftstellerin Sofia Andruchowytsch. Geleitet wurde die Winterschule von dem Slawistik- und Literaturwissenschaftler Alexander Kratochvil, die Kursvorträge wurden überwiegend von Ukraine-Forschenden gehalten - wie Peter Hilkes, der seit 2006 Lehrbeauftragter für ukrainische Landeskunde ist.

Historische Schulzeugnisse

Am letzten Tag hat sich die Gruppe mit Hilkes auf einen Stadtspaziergang durch das ukrainische München begeben. Erster Halt ist die Ukrainische Freie Universität, die 1923 gegründet wurde und als eine der wenigen außerukrainischen Universitäten auch Studiengänge auf Ukrainisch anbietet. Kanzler Dmytro Shevchenko empfängt die Gruppe und spricht über die Lehrangebote und Zukunftspläne der privaten Universität. Aktuell arbeiteten sie auch daran, Lehrkonzepte für ukrainische Wiederaufbauprogramme zu entwickeln, sagt er. Seit dem Kriegsbeginn sei spürbar auch das politische Interesse an der Universität gewachsen, so Shevchenko: "Es ist also auch ein Fenster der Chance."

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Denn die Universität ist nicht nur ein ein Ort für akademische Lehre, sondern auch ein wichtiges Dokumentationszentrum ukrainischer Kultur: Im Keller befindet sich ein Archiv mit mehr als 200 Titeln, darüber eine Bibliothek. "Eine klassische Diaspora-Bibliothek", sagt Hilkes, der selbst einige Jahre an der Universität gelehrt hat. Viele der hier aufbewahrten Dokumente stammen aus "Displaced Person Camps", die von 1945 an in München entstanden sind. Nach Kriegsende blieben viele ukrainische Zwangsarbeiter und Überlebende aus Konzentrationslagern in München, weil sie nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten.

In der Stadt entwickelte sich dadurch eine große ukrainische Gemeinschaft, die zunehmend auch eigene Schulen gründete. Deren Zeugnisse füllen in der Universitätsbibliothek nun ganze Ordner, die Hilkes der Gruppe zeigt. Damals habe es kaum kyrillische Schreibmaschinen gegeben, deshalb seien die Wörter buchstabengetreu in das lateinische Alphabet übertragen worden, erklärt er: "Man hat transliteriert."

Ein "Holodomor"-Denkmal auf dem Kirchenvorplatz

Nächstes und letztes Ziel der akademischen Spazierfahrt ist die ukrainisch-griechisch-katholische Kirche Maria Schutz & St. Andreas. Als die Gruppe ankommt, wird im Pfarrhaus gerade das Nationalgericht Wareniki gekocht. "Die Kirche hier übt eine große soziale Funktion aus", sagt Hilkes. Für die ukrainische Gemeinschaft in München ist sie auch abseits des Glaubens ein wichtiger kultureller Anker, regelmäßig finden dort Feste, Veranstaltungen und seit Kriegsbeginn vor allem auch Benefizkonzerte statt.

Wieder draußen, weist Hilkes die Gruppe auf ein Denkmal am Rande des Kirchenvorplatzes hin, das an die große ukrainische Hungersnot "Holodomor" von 1932 an erinnert. Seit Jahren kämpft die Ukraine dafür, dass die Hungerkrise als stalinistischer Genozid anerkannt wird. Im vergangenen November hat der Bundestag den Völkermord anerkannt - auch, um sich Putins Geschichtsrevisionismus entgegenzustellen. Der Krieg kommt an diesem Tag immer wieder zur Sprache, viele der ukrainischen Orte Münchens zeigen sich verändert - nicht zuletzt durch die neue gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit, die sie erfahren.

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