Flucht aus der Ukraine:Die 112 für humanitäre Hilfe

Flucht aus der Ukraine: "Alleine kann ich an einem Tag vielleicht zehn Menschen helfen. Mit einem guten System aber Hunderten!": Dieser Gedanke treibt den Informatiker Mischa Panchenko an.

"Alleine kann ich an einem Tag vielleicht zehn Menschen helfen. Mit einem guten System aber Hunderten!": Dieser Gedanke treibt den Informatiker Mischa Panchenko an.

(Foto: Friedrich Bungert)

Zwei Münchner Informatiker entwickeln eine Hotline, die ukrainischen Flüchtlingen schnell die passende Organisation für ihr Problem vermittelt. Ihr Call-Center könnte auch bei Naturkatastrophen nützlich sein.

Von Jerzy Sobotta, München

Als die ersten Raketen in der Ukraine einschlagen, ist Mischa Panchenko gerade im Badeurlaub in Ägypten. Der Münchner Informatiker sitzt in seinem Hotelzimmer und schaut sich entsetzt die Bilder im Internet an. Sofort ruft er seinen Vater an, der in Charkiw lebt. Dem geht es gut. "Es war einfach nur traurig. Ich habe mich betrunken und gewartet, dass die Russen Kiew einnehmen", sagt der 32-Jährige. Und er ruft seinen Arbeitskollegen in München an, Pavel Sagulenko, einen ukrainischen Bioinformatiker.

"Ich komme von der Krim. Ich wusste sofort, was dieser Krieg bedeutet", sagt Sagulenko. Die ersten beiden Tage der Invasion verbringt er ohne Pause am Telefon. Er versucht, Freunde aus dem Kriegsgebiet herauszuholen, Mitfahrten zu vermitteln, Wohnungen, Kontakte zu Bekannten und Freunden von Freunden. Doch nicht allen hat er schnell genug helfen können. Städte wurden umzingelt, Straßen abgeschnitten. "Da wurde mir klar, wie wichtig es ist, dass es schnell geht", sagt der 35-Jährige. "Und dass ich alleine an einem Tag vielleicht zehn Menschen helfen kann. Mit einem guten System aber Hunderten!" So kam ihm die Idee, an der die beiden Informatiker nun schon seit fast zwei Monaten arbeiten: eine zentrale Hotline für ukrainische Flüchtlinge, die ihnen den Kontakt zu den richtigen Hilfsorganisationen vermittelt. Schnell und effizient.

Eine Notfallnummer, die man sich wie die Leitstelle der 112 vorstellen kann: Das Wichtigste wird abgefragt, und sofort fährt der Krankenwagen zur der richtigen Adresse, egal ob man gerade aus München oder aus Hamburg anruft. Die Flüchtlingshilfe für Ukrainer funktioniert derzeit aber noch so, als ob man die Handynummer des nächsten Rettungssanitäters herausfinden müsste, wenn man sich das Bein gebrochen hat. "Es gibt total viele wichtige Hilfsangebote, aber kaum Koordination untereinander", sagt Panchenko.

Genau das macht die 0800-66 447 88 - die "gorjatschaja linia", also die kostenfreie Hotline, die die beiden Münchner Informatiker entwickelt haben. Sie bringt Flüchtlinge und die richtigen Hilfsorganisationen zusammen. Etwa Oxana, die über diese Nummer ein neues Zuhause gefunden hat, bei Günther und Joana in einem Münchner Vorort. Die 44-jährige Verkäuferin ist mit einer Freundin und deren beiden Töchtern aus der Region Charkiw geflohen. "Dort, wo sie schießen", sagt sie am Telefon. Das Haus der Freundin wurde ausgebombt. Die vier Frauen hatten eine Odyssee mit Bussen und Zügen hinter sich: über Lwiw, Warschau, Berlin bis nach Gießen. Dort sind sie in einer schäbigen Flüchtlingsunterkunft gestrandet und wussten nicht, wie es weitergeht. Auf Facebook hat Oxana die Nummer der Hotline gefunden und hat angerufen. "Am anderen Ende war Yulia, wir sind ihr so dankbar, sie hat uns so sehr geholfen", sagt Oxana. Die Telefonistin hat das Gesuch aufgenommen. Wenige Tage später hat Günther die vier Frauen am Bahnhof abgeholt.

Die Hotline leitet die Gesuche an die Hilfsorganisationen weiter, die Partner sind. Zurzeit zum Beispiel an "Unterkunft-Ukraine", eine Plattform die deutschlandweit bis zu 360 000 Betten bei Privatpersonen vermitteln kann oder an den Verein "München hilft Ukraine", an das "Kulturzentrum Gorod", bei dem sich Russen und Ukrainer als freiwillige Übersetzter engagieren.

Statt am Strand zu liegen, hat Panchenko die ersten Codes geschrieben

"Wir haben im Moment rund 200 Freiwillige, die telefonieren", sagt Panchenko. Sie sprechen alle Ukrainisch und Russisch, schreiben die Anfragen in kurze prägnante Texte zusammen. Der Computer schaut, welche Hilfsorganisation das anbietet, was der Flüchtling gerade braucht: etwa einen Übersetzer für einen Arztbesuch in München. Das Gesuch wird dann automatisch etwa über einen Telegram-Bot auf Englisch an die Handys genau der Hilfsorganisationen geschickt, die dafür in Frage kommen. Nimmt eine die Anfrage an, verschwindet sie bei allen anderen. "Das ist extrem schnell, effizient und sicher", sagt Panchenko und zeigt auf seinen Laptop, auf dem eine Oberfläche mit dutzenden Telegram-Kanälen erscheint. Die ersten Zeilen Code dafür hat er im Ägypten-Urlaub geschrieben, statt am Strand zu liegen.

Jetzt sitzt er in der Kaffeeküche seines Büros im Münchner Kreativquartier. Durch das Fenster sieht man die Glas- und Betonkonstruktion des Munich Urban Colab, eines Zentrums für Start-ups. Normalerweise entwickelt Panchenko hier künstliche Intelligenz, jetzt koordiniert er die Hilfs-Hotline, die die beiden Informatiker etwas umständlich "UA Coordination Initiative" genannt haben. Glück hatten sie, dass die Firma, bei der sie arbeiten, Teil der UnternehmerTUM ist und somit der schönen neuen Welt der Münchner Tech-Firmen. Und dass sie ihren Chef von der Idee begeistern konnten. Der hat sie halbtags freigestellt und Kontakte besorgt: etwa zur Telekom, die drei Gratis-Telefonnummern, Hard- und Software für das Callcenter gespendet hat. Oder zu großen IT-Firmen, die insgesamt 16 IT-Entwickler für das System abgestellt haben. Alles gratis. "Es ist ein rein humanitäres Projekt", sagt Panchenko. "Wir verdienen keinen Cent damit."

Wenn alles fertig ist, soll der Code Open Source werden. Damit auch andere so ein Call-Center in Krisensituationen aufbauen können. Bei einem Taifun auf den Philippinen zum Beispiel, oder bei Hochwasserkatastrophen wie im vergangenen Jahr im Ahrtal. "Wir waren erstaunt, dass es so etwas in Deutschland nicht schon gibt", sagt Panchenko. Denn fast jede große Firma, die Polizei, die Rettungsdienste, sie alle haben professionelle Call-Center. "Wieso hat man so etwas nicht schon längst für den Krisenfall eingerichtet? Dafür braucht man nicht einmal künstliche Intelligenz", sagt er.

Mit neun verließ er Charkiw. Jetzt fühlt er sich als Ukrainer

Die Pilotphase hat gut funktioniert. Mehrere hundert Wohnungen hätten sie in den vergangenen Wochen bereits vermittelt, in ganz Deutschland. Die Nummer hat sich schnell herumgesprochen, obwohl sie sie erst nur an Bekannte weitergesagt haben - damit die Leitung nicht überlastet wird. Nun wollen sie die Hotline auf ganz Deutschland ausweiten. Hilfsorganisationen können sich melden und angeschlossen werden - selbstverständlich datenschutzkonform. Und die Helferinnen und Helfer müssen weder Ukrainisch noch Russisch können, denn die Zusammenfassung kommt auf Englisch. Bald sollen neben Wohnungen und Übersetzungen auch Jobs für die ukrainischen Flüchtlinge vermittelt werden. Eine Firma, die ukrainische Flüchtlinge einstellen will, hat schon angefragt.

Das Ziel ist, die Hotline auch in Polen und der Ukraine anzubieten. Das ukrainische Sozialministerium unterstützt das Projekt bereits. Die Vereinten Nationen und das Bayerische Innenministerium sehen es sich gerade an, erzählt Panchenko. "Zumindest den Telefonisten würden wir gerne etwas bezahlen. Im Moment machen sie alles ehrenamtlich." Noch wichtiger sei aber, dass noch mehr Hilfsorganisationen mitmachen, an die sie die Anfragen senden können.

Der Krieg und die Hotline haben Panchenkos eigenes Verhältnis zur Ukraine verändert. Mit neun ist er aus Charkiw nach Deutschland gekommen. Die Ukraine hat er nie wieder besucht. Zum Ukrainer fehlte ihm die Sprache, zum Russen der Pass, zum Juden der Glaube. Und zum Deutschen die Eltern. Wie man ihn nannte, war ihm egal. Bis zu jenem Tag, als er in seinem Hotelzimmer im Ägypten-Urlaub auf seinem Laptop gesehen hat, wie russische Raketen die Stadt seiner Kindheit zerstören. "Seitdem bin ich Ukrainer", sagt Panchenko.

Flüchtlinge aus der Ukraine können die Hotline 0800/66 447 88 anrufen. Hilfsorganisationen können sich bei der "UA Coordination Initiative" anmelden, um Anfragen von Flüchtlingen über die Hotline zu erhalten: ua-coordination.community

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