Typisch deutsch:Das Gedächtnis und seine Grenzen

Lesezeit: 2 min

Ohne Terminkalender geht es nicht mehr, wenn man für mehrere Menschen planen muss. (Foto: Bernd Leitner via www.imago-images.de/imago images/Shotshop)

Schriftliche Planung? Unsere Autorin hatte ihre Termine jahrzehntelang im Kopf. In München praktizierte sie dieses Konzept einige Zeit mit mäßigem Erfolg. Nun hat sie das System geändert.

Kolumne von Lillian Ikulumet

Wir befinden uns in der hektischsten Zeit des Jahres. Pakete vor 18 Uhr zurückschicken, Silvester planen, irgendjemand hat Geburtstag, der Ausweis muss neu beantragt und irgendwelche Schreiben müssen bis zu irgendeiner Frist abgeschickt werden. Hinzu käme - in normalen Jahren - die Betriebsweihnachtsfeier und das Chorkonzert des Kindes. Wie schnell einem da mal ein Hochzeitstag durchrutscht.

Das menschliche Gehirn ist ein wunderbares Instrument für Erinnerungen. Leider aber ist es bisweilen ein bisschen fehlerhaft.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

Fast zwei Jahrzehnte meines Erwachsenenlebens konnte ich mich weitestgehend auf die Kapazitäten meines Kopfes verlassen. In Uganda lag es auch daran, dass die Flut an Terminen deutlich weniger reißend war als hierzulande. Kurz nach meinem 18. Geburtstag unternahm ich einst den Versuch, einen schriftlichen Zeitplan zu erstellen. Ich nahm mir mein Tagebuch und vermerkte mir Termine durch eine Notiz. Es war allerdings nicht so leicht, zwischen meinen Kritzeleien und der für viele wohl unleserlichen Handschrift einen freien Platz auf dem Papier zu finden, wo ein Datum und eine Uhrzeit einzutragen sinnvoll erschien. Nach wenigen Wochen bemerkte ich beim Durchblättern der Seiten, dass ich einen meiner vermerkten Termine verpasst hatte. Ich verwarf das Konzept und kehrte zurück zum alten System, meinem Gedächtnis.

Die Flucht hat vieles verändert. Und je länger ich in Deutschland lebte, desto mehr wurden mir die Schwächen meines einst bewährten Systems aufgezeigt. Die Behördentermine im Asylverfahren, der Arzttermin meiner Tochter, die Ummeldung nach dem Umzug, die Beantragung des Nummernschilds. Sehr viele solcher Termine habe ich bewältigt. Ich kann jedoch nicht mehr sagen, wie viele ich in meinen Anfangsjahren in Bayern versäumt habe. Nur so viel: Es waren ausreichend viele Anlässe, um eine Systemänderung durchzuführen.

Typisch deutsch
:Das Mysterium des rauchenden Zwergs

Eine unbewegliche Holzfigur, die Rauchschwaden ausstößt? In Syrien übernehmen diese Aufgabe die Menschen noch weitestgehend selbst. Über die Entgeisterung des Rauchens.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Ich begann mit einem analogen Handkalender, wo ich mir im typisch deutschen Stil die Uhrzeiten und Themen eines Termins in die dafür vorgezeichnete Tabelle eintrug. Mittlerweile muss ich nicht mehr darin blättern. Der Kalender ist in mein Smartphone gewandert. Solange ich mein Handy dabeihabe, kann ich sicher sein, dass ich meinen nächsten Jobcenter- oder Ausländerbehörden-Termin nicht verpasse. Denn mein Telefon hört bei einer Erinnerung nicht auf zu klingen.

Auffällig daran, und zwar nicht zwingend positiv: Seit ich mit Kalender arbeite, habe ich keinen Termin mehr im Kopf. Werde ich gefragt, ob ich nächsten Freitagabend Zeit habe, muss ich erst in meinem Kalender nachschauen. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn alle Kalender der Welt plötzlich verschwinden würden. Wir wären ahnungslos und hilflos zugleich. Fehlt nur noch, dass ich mir demnächst Feiertage wie Weihnachten oder Ostern eintrage.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ-Kolumnisten
:Wenn die Bleibe zum Zuhause wird

Drei geflüchtete Journalisten schreiben in der neuen SZ-Kolumne "Typisch deutsch", wie München sie verändert hat.

Von Korbinian Eisenberger

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: