Süddeutsche Zeitung

Kunstprojekt:"Warum sprechen wir nicht darüber?"

Anna Möhrle hat früh ihren Bruder und ihren Vater verloren. Das Thema Trauer verarbeitet sie mit Tanz und Musik - im öffentlichen Raum. Damit will sie allen helfen.

Von Nicole Salowa, München

In der Mitte des Theatrons stehen drei junge Tänzer. Zwei Frauen, ein Mann. Still. Wartend. Eine Stimme ertönt. Sie liest die wissenschaftliche Definition von Verlust vor. Dann setzt eine Melodie ein - mit überraschend fröhlichem Klang. Und mit dem Beat kommt Bewegung in die Tanzenden. Sie drehen sich fließend zueinander hin und wieder weg. Jeder tanzt nun die eigene Definition von Verlust. Warum die Melodie zu Beginn fröhlich ist? "Bevor man etwas verliert, ist da die Lebenslust, die Freude an der Erfahrung", sagt Anna Möhrle, 29. Sie steht in der Tanzkonstellation rechts außen.

Das Kunstprojekt "(Er)Lebens (Ver)Lust", das an einem Augustabend im vergangenen Jahr mehr als 100 Menschen in den Ostpark gelockt hat, entspringt ihrer Idee. Zusammen mit der interdisziplinären Gruppe "Die Städtischen" kreiert Anna einen Ort, an dem über das gesprochen wird, über das sonst kaum jemand gerne spricht: Verlust. Und der ist für Anna vielschichtig.

Doch hat es in Annas Leben zwei Ereignisse gegeben, die sie besonders zu ihrem Projekt inspiriert haben. Der Verlust zweier geliebter Menschen.

Bewegung ist für Anna schon immer zentral im Leben, sie tanzt schon seit mehr als einem Jahrzehnt. Ihr Beweggrund: sich ausdrücken zu können, ohne Worte benutzen zu müssen. "Erlebnisse, die ich nicht über Sprache kommunizieren konnte, konnte ich tanzen", sagt sie. Als Kind habe sie schon eine unbändige Energie in sich gehabt. Dass sie heute noch eher wild ist, lässt auch ihr Knie vermuten. Es steckt in einer Schiene. Da sei sie eine Rolltreppe hochgefallen, sagt sie und lacht.

Sie wusste nicht, wie umgehen mit der Krankheit des Vaters

Unbändige Energie - das trifft wahrscheinlich auf viele Kinder zu. Was bei Anna jedoch anders war: Sie wuchs mit einem Papa auf, der krank war. "Ich wusste als Kind nicht, wie ich mit meinen Emotionen umgehen soll. Tanzen fühlte sich für mich am natürlichsten an. Da musste ich nichts erklären", sagt sie.

Was ihr das Tanzen bedeutet, erkennt man sofort, wenn man sich mit ihr darüber unterhält. Sie spricht von der Kraft, die ihr der Tanz gibt, und in ihren braunen Augen sieht man all die Freude, die Wärme. Am Anfang war es eher ein unbewusster Mechanismus, der ihr beim Verarbeiten half. Erst später nimmt sie ihn als solchen wahr. Als sie anfängt, Theater zu spielen. "Da habe ich auch durch das Spielen gemerkt, dass die darstellenden Künste eine Auseinandersetzung mit mir selbst sind", sagt sie.

Anna tanzt Contemporary. In großen, fließenden Bewegungen. Contraction und Release ist hier eine beliebte Technik. Sich zusammenziehen, die Muskeln in Anspannung. Dann loslassen. Ähnlich wie Anna im Tanz ihre Emotionen loslässt.

Annas Bruder stirbt, als sie 13, ihr Vater, als sie 22 ist. "Dein ganzes Leben stellt sich auf den Kopf. Man muss Aufgaben übernehmen, von denen man in diesem Alter keine Ahnung hat", sagt sie. Dafür, dass sie ihren Verarbeitungsmechanismus - das Tanzen und Theaterspielen - schon als gut gewebtes Fangnetz parat hatte, ist sie dankbar.

Schon in diesem Moment hat Anna den Gedanken, ihre Erlebnisse durch ein Tanztheater zu verarbeiten. Ihr Gefühl damals: Noch ist nicht der Zeitpunkt dafür. Es vergehen einige Jahre, über ihren Verlust redet Anna nur mit wenigen Menschen. Sie studiert Theater- und Medienwissenschaft, zieht von Deutschland nach Australien und wieder zurück. Als vor zwei Jahren die Pandemie wütet, vermisst Anna das Tanzen. Das Thema Verlust bleibt ihr dabei immer im Hinterkopf.

"Ich habe mich auf, hinter und vor der Bühne nicht repräsentiert gefühlt"

"Ich wollte einfach tanzen und während Corona konntest du das nirgends", sagt Anna. Den Wunsch, Kunst in den öffentlichen Raum zu bringen - sie nahbar zu machen - hat sie schon länger. "Ich hatte oft das Gefühl, dass Theater zu einer Hochkultur gehört und der Zugang dazu begrenzt ist. Ich habe mich auf, hinter und vor der Bühne nicht repräsentiert gefühlt. Obwohl es doch im Theater darum gehen sollte, die Gesellschaft widerzuspiegeln."

Die Menschen sollen nicht zur Kunst kommen müssen, sondern die Kunst auch zu den Menschen, denkt sie. An Orte, wo man sie nicht erwartet. Dort will sie ihr Stück aufführen. "Dann habe ich mich gefragt, um was es gehen soll. Mein erster Impuls war, an das Thema zu denken, das ich eh schon die ganze Zeit im Hinterkopf hatte."

Anna möchte aber nicht alleine tanzen. Sie möchte am liebsten ein Kollektiv gründen. Mit interdisziplinären Kunstschaffenden. Das erzählte sie einer Freundin. "Die meinte dann, so etwas gibt es doch schon", sagt Anna und grinst. Gemeint sind die Städtischen, eine Gruppe junger Kreativer. Sie veranstalten seit ungefähr zwei Jahren Projekte im öffentlichen Raum. Gemeinsam arbeiten sie mit Anna das Konzept von Er(Lebens) (Ver)Lust aus. Mit mehr als 60 Künstlerinnen und Künstlern will Anna das Schweigen um das Thema brechen. "Mir ist aufgefallen, wie schwer es mir selbst und anderen fiel, über Verlust zu sprechen. Aber er passiert uns allen, auf unterschiedliche Art. Irgendwann im Leben bestimmt. Warum sprechen wir nicht darüber?", fragt Anna.

Im August vergangenen Jahres ist es losgegangen im Ostpark. Es ist die erste von insgesamt drei Veranstaltungen. Denn Verlust ist wie ein Block unbearbeiteter Ton, er kann vieles sein. An diesem Sommerabend ist es um Verlust von Würde und Glückseligkeit gegangen. Einen Monat später ist die Bühne, die aus bunt bemalten Holzklötzen und einem ausrollbaren Tanzboden besteht, am Lerchenauer See. Hier ist es um Verlust von Liebe und Heimat gegangen. Es kommen fast doppelt so viele Zuschauer. "Nach dem Abend im Ostpark war ich vor allem erschöpft. Erst am Lerchenauer See habe ich realisiert: 'Anna, das war alles in deinem Kopf und jetzt ist es Realität. Ich kann mich selbst glücklich machen.' Und mir kamen fast die Tränen."

Die letzte Veranstaltung im Oktober: Es ist um den Verlust von Freiheit und Leben gegangen. Diesmal entsteht die zwölf Quadratmeter große Bühne unter einem Baum im Englischen Garten. "Fin" hat Anna den Baum getauft. Passend, denn das bedeutet auf Französisch "Ende". Mit Sonnenuntergang ging es los. Lyrik, Musik und dann Tanz: Der Ablauf und die Tanzmelodie sind immer gleich. Die Inhalte ändern sich je nach Thema, es wird auch viel improvisiert. Anna hat an diesem Abend nur eine weitere Tanzpartnerin, sie tanzen barfuß, bewegen sich locker zu einer fröhlichen Melodie.

Plötzlich schlägt ein düsterer Klavierakkord ein, wie ein Blitz aus einer Gewitterwolke. Die Tänzerinnen verharren - schwer atmend und verzweifelt schauen sie Richtung Himmel. Das Klavier wird immer schneller, der Tanz baut sich auf wie ein Orkan, der bei zuvor wolkenlosem Himmel über einen hereinbricht. Nach 20 Minuten endet das Stück auf einer Note. Anna liegt auf einem der Holzblöcke, die Scheinwerfer machen ihre Atemluft sichtbar. Sie schneidet die kalte Herbstluft. Danach geht Anna ans Mikrofon, bedankt sich. Und erzählt von ihrem Verlust. Zum ersten Mal erfahren ihre Mitwirkenden von ihrer Geschichte. "Ich hatte nicht wirklich geplant, es zu erzählen, aber es hat einfach gepasst. Die anderen waren echt überrascht. Sie dachten, ich vertanze ein fiktives Thema. Dabei war es meine Geschichte", sagt sie. Sie lächelt.

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München lebt. Viele junge Menschen in der Stadt verfolgen aufregende Projekte, haben interessante Ideen und können spannende Geschichten erzählen. Hier werden diese Menschen vorgestellt - von jungen Autoren.

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