Tolstoi-BibliothekBücher und Beistand

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Die Tolstoi Bibliothek wurde 1949 in München gegründet, vor wenigen Monaten ist sie innerhalb der Stadt nach Neuhausen umgezogen.
Die Tolstoi Bibliothek wurde 1949 in München gegründet, vor wenigen Monaten ist sie innerhalb der Stadt nach Neuhausen umgezogen. (Foto: Evgeny Satyev / Tolstoi Bibliothek)

Die Tolstoi Bibliothek ist seit Jahrzehnten ein wichtiger Ort für die russische Kultur in München. Seit dem Krieg suchen sie auch zahlreiche ukrainische Geflüchtete auf - und finden einen Ort des Zusammenhalts.

Von Magdalena Zumbusch

"Was glauben Sie, wie wir hier geweint haben, als das alles losging." Tatjana Erschow, die Leiterin der Münchner Tolstoi Bibliothek, meint damit den Krieg in der Ukraine, "Slawen töten Slawen". Sie spürt den Krieg im Berufsalltag ständig, seit die Bibliothek regelmäßig von ukrainischen Geflüchteten aufgesucht wird.

So groß die Spannungen zwischen den Kulturen in der Ukraine kriegsbedingt auch sind, so sehr die ukrainische Sprache dort an Bedeutung gewonnen hat und die russische Kultur zunehmend abgelehnt wird, gibt es doch viele russischsprachige Geflüchtete, die sich derzeit in München in der Tolstoi-Bibliothek mit (nicht nur) Büchern versorgen. Ob der Kontakt zwischen Russen und ukrainischen Flüchtlingen in der Bibliothek immer harmonisch abläuft? Ja, da hier die Politik außen vor bleibe, funktioniere das ausnahmslos gut, sagt Erschow.

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Es ist eine ganz neue Situation für die traditionsreiche Bibliothek, die vor wenigen Monaten innerhalb Münchens umgezogen ist und ihren Sitz nun in Neuhausen hat. Um kurz die Gründungsgeschichte zu rekapitulieren: Die jüngste Tochter Leo Tolstois, Alexandra, hatte in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg die "Tolstoy Foundation" gegründet, die russische Emigranten unterstützte. Praktische Lebenshilfe und Bildung sollten hier zusammenspielen. Auch in Deutschland lebten in der Nachkriegszeit mehrere Millionen Russen, und die Tolstoy Foundation war hier mit Bildungsprogrammen und humanitärer Hilfe aktiv. Im Umfeld der Stiftungsaktivitäten wurde dann 1949 die Münchner Bibliothek gegründet.

Angangs wurde mittels Spenden der Bestand aufgebaut

Der Bestand der Bibliothek baute sich anfangs vor allem über Spenden auf, heute erhält die Bibliothek Unterstützung durch Stadt und Bund. Eines hat es allerdings nie gegeben, stellt Erschow klar: Unterstützung durch den russischen Staat. Von Anfang an sollte die Einrichtung unpolitisch bleiben, nur kulturellen und sozialen Zwecken dienen. Der Bestand umfasst inzwischen mehr als 47 000 Bücher und ist damit immerhin die größte nichtstaatliche russische Bibliothek Westeuropas. Sie beherbergt überwiegend originalrussische Werke, daneben Übersetzungen von Weltliteratur. Herzstück der Sammlung ist die Exilliteratur, teils wertvolle Erstausgaben, wie die von Nabokov handsignierte "Lolita".

Nicht nur die Bücher sind nachgefragt: Auch die Veranstaltungen und das Beratungsangebot finden Zuspruch, so Erschow. Literaturclubs, Lesungen, Filmvorführungen oder Konzerte sollen ermöglichen, die russische Kultur in der Fremde zu pflegen. Oder kennenzulernen: Es gebe durchaus Besucher ohne russischen Hintergrund, sagt Erschow. Andersherum soll auch die Integration in die deutsche Kultur gefördert werden, etwa durch Deutschkurse.

Die Beratungsstelle hilft bei fast allen Problemen

Bei welchen Problemen die Beratungsstelle hilft? Fast allen. Man verstehe sich als eine Art Erstberatungsstelle, zu der man mit "lebenspraktischen, sozialen, seelischen, körperlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten" kommen dürfe. Das Wort möge sie nicht, aber es gehe darum, möglichst "niedrigschwellig" zu sein, erklärt Erschow. Denn vielen, die kämen, seien spezialisierte Beratungsangebote aufgrund verschiedener Hemmschwellen - sprachlich, aber auch kulturell bedingt - verschlossen. Es gehe oft einfach darum, deutsche Post zu übersetzen und zu erklären, was damit zu tun sei. Oder eben darum, nach ersten Gesprächen eine spezialisierte Beratung zu vermitteln. Momentan stoße das Beratungsangebot bei den ukrainischen Ankömmlingen auf großen Bedarf, sagt Erschow.

Seit den frühen Neunzigerjahren leitet Erschow die Bibliothek nun schon. Als sie nach einem Studium der Slawistik und Komparatistik in der Tolstoi Bibliothek startete, habe sich ihr eine neue kulturelle Welt geöffnet, sagt sie. Dass die Einrichtung keinen Anfeindungen ausgesetzt ist und nicht an Nachfrage eingebüßt hat, liegt sicher nicht zuletzt an der spürbaren Offenheit und der Begeisterung, mit der Tatjana Erschow die Einrichtung führt. Egal, was die russische Regierung tue, sagt Erschow noch: dass sie sich russisch fühle und die reiche russische Kultur liebe, könne sie nicht einfach ablegen. Die Kunst liegt nun darin, so lässt sich feststellen, verfeindete Lager friedlich zusammenzubringen.

Tolstoi Bibliothek, Aldringenstr. 4, Tel. 089/ 299775, www.tolstoi.de

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