Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: München natürlich:In Moosach lebt eine Sensation: die Küstenstrauchschrecke

Biologen glauben, dass die Tiere einst als blinde Passagiere mit dem Zug angereist sind. Die Geschichte einer exotischen Heuschrecke.

Von Thomas Anlauf

Bei einer Radltour durch München kann man allerhand entdecken. Eine exotische Heuschrecke zählt normalerweise nicht dazu. Doch genau diese Entdeckung machte der Münchner Zoologe Frank Glaw an einem milden Oktobertag mit wolkenlosem Himmel im Jahr 2008. Es war gegen 12 Uhr, als er an einem sonnenbeschienenen Hang am Rand des Rangierbahnhofs Nord ihm unbekannte Geräusche hörte. Es war der Klang einer Heuschrecke, doch so einen Gesang hatte der Kurator an der Zoologischen Staatssammlung noch nie gehört.

Also folgte er den Rufen des Insekts und fing an dem mit hohem Gras und Gebüsch bewachsenen Hang schließlich eine relativ große Laubheuschrecke. Am nächsten Tag besuchte er die Stelle noch einmal mit seinem Kollegen Michael Franzen. Wieder hörten und sahen die Biologen diese seltsamen Tiere, die eindeutig zu den Langfühlerschrecken gehörten. Sie fühlten sich in der Sonne offenbar sehr wohl, das mitgebrachte Thermometer zeigte mehr als 30 Grad Celsius an dem Ast, auf dem ein Männchen zirpte. Genaue Untersuchungen des Gesangs und des Körpers ergaben eine Sensation: Am Rangierbahnhof in Moosach lebte ein Tier, das in Deutschland noch nie gesehen worden war: die Küstenstrauchschrecke.

"Schon eine witzige Geschichte, man denkt, in Deutschland ist schon jede Art gefunden, und dann wird sie auf einer Radtour entdeckt", sagt Julia Wildfeuer. Die Diplom-Biologin an der Zoologischen Staatssammlung ist fasziniert von der Entdeckung der Küstenstrauchschrecke (Pholidoptera littoralis littoralis) mitten in München. Zu jenem Zeitpunkt vor knapp zwölf Jahren waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass der große Hüpfer überhaupt nicht in Deutschland vorkommt.

Sie ist zwar über weite Gebiete Südeuropas verbreitet und tritt in drei Unterarten auf: eine bewohnt nordwestliche Teile Italiens und die Südschweiz, eine andere Unterart kommt in Rumänien, Bulgarien und Serbien, aber auch in Ungarn und Albanien vor. Genetische Untersuchungen an der Rangierbahnhof-Heuschrecke ergaben, dass es sich um die dritte Unterart handeln musste: Das Insekt stammt aus dem Adria-Raum. "Ich finde es spannend, dass sich München so entwickelt, dass hier ein waschechter Italiener leben kann", sagt Julia Wildfeuer, die gerade an ihrer Doktorarbeit sitzt.

Die Entdeckung ist tatsächlich in verschiedener Hinsicht bemerkenswert, weil die Larven der Münchner Küstenstrauchschrecke nach Angaben von Frank Glaw "schon extrem früh im Jahr erscheinen und im zeitigen Frühjahr die häufigsten und etwas später auch größten Insekten in ihrem Lebensraum darstellen".

Sie sind sogar schon früher dran als ihre Verwandten in der Schweiz, in München sind erste Larven bereits Anfang März zu beobachten, die Schweizer erst Ende April bis Anfang Mai. Damit unterscheidet sich "die einzige nördlich der Alpen gelegene Population" nicht im Bezug auf Lebensdauer von den mediterranen Populationen. Offenbar ist das Klima in München also mild genug, dass sich die Tiere hier wohlfühlen. Denn ihr Vorkommen ist seit vielen Jahren stabil, die Forscher gehen davon aus, dass sich die Küstenstrauchschrecke sogar schon vor etwa 20 Jahren entlang des Hunderte Meter langen Bahndamms in Moosach angesiedelt hat.

Allerdings bleibt die Frage: Wie kommen die Tiere überhaupt nach München? Denn fliegen können sie nicht, der Weg über die Alpen wäre viel zu beschwerlich. Mittlerweile gehen die Zoologen davon aus, dass die Heuschrecken einst als blinde Passagiere mit dem Zug angereist und hier hängen geblieben sind. Bei späteren Exkursionen stellte Glaw fest, dass die Küstenstrauchschrecke nicht das einzige Insekt mit Migrationshintergrund ist, das sich am Rangierbahnhof heimisch fühlt. Sogar die Europäische Gottesanbeterin, die Gemeine Sichelschrecke und das Weinhähnchen leben hier. Doch deren Herkunft ist zumindest geklärt. Sie wurden ausgesetzt.

Die Küstenstrauchschrecke verhält sich als Zuagroaster offenbar ziemlich unauffällig. "Sie sind eigentlich gut für das Ökosystem dort", sagt Julia Wildfeuer. Erdkröten und Zauneidechsen, die dort auch siedeln, haben sie zum Fressen gern. Den Ruf der Heuschrecke haben die Wissenschaftler nun auch lokal eingrenzen können: Es sind kroatische Gesänge.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4877175
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.04.2020/kaal
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.