Das wohl schönste Bild des Tages gibt Svenja ab. Mit dem Rücken zum Trubel hat sie ihr frisch erworbenes Gartenbänkchen aufgestellt, sich darauf niedergelassen und eine Cola light geöffnet. Erschöpft ist sie von dem Gewusel hinter ihr, aber sehr zufrieden mit ihrem Fundstück. "Der ist einfach perfekt", sagt Svenja und meint den schicken weißen Zweisitzer, ein Möbelstück "für nur 60 Euro! Und in das cremefarbene Nähkörbchen hier kommt dann ein Eiskühler rein - herrlich. Ich bin so glücklich! Jetzt brauch ich nur noch ein Taxi, das mir das Ding heimfährt."
Kein Problem, denn natürlich haben auch die Taxifahrer spitz gekriegt, dass beim großen Flohmarkt auf der Theresienwiese und dem Frühlingsfest nebenan ordentlich was zu verdienen ist.
Wenn man denn mit dem Taxi überhaupt bis zum Auge des Orkans vordringt. Denn traditionell geht es an diesem Flohmarkt-Samstag zu wie ein paar Monate später beim Oktoberfest. Vom Goetheplatz aus schieben sich die Menschen schon am Vormittag dicht an dicht Richtung Theresienwiese. Der Flohmarkt beginnt weit vor dem Wiesn-Oval, in der Mozart- und der Kobellstraße haben all jene ihre Stände aufgestellt, die sonst keinen Platz mehr bekommen hätten.
Newsletter abonnieren:München heute
Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.
Von dort hört und staunt man über die immer gleichen Geschichten: Von Menschen, die mitten in der Nacht aufstehen, um mehrere Stunden und Schleppereien später ihren Krempel für ein paar Euro loszuwerden, nach dem Motto: "Alles muss raus!" So wie bei der Familie von Melina aus Regensburg, die Kristalle und fast schon antike Comics im Angebot hat. "Um 2.45 Uhr hat mein Wecker geklingelt, um halb fünf waren wir dann hier. Papa hatte die Nacht schon im Auto verbracht und den Platz reserviert." Der Grauhaarige trägt ein rotes T-Shirt mit den mürrischen Muppet-Opas Waldorf und Statler sowie dem Schriftzug "Old school" darauf.
Schräge Gestalten sind jede Menge unterwegs, dies- und jenseits der Verkaufsstände. Da sind die traditionell peruanisch gewandeten Panflötisten, die man aus der Fußgängerzone kennt, und die hier ihre Instrumente in allen Farben und Größen anbieten. Einer schmückt seinen Kopf mit einem gewaltigen Federbusch, der jeden Pfau vor Neid erblassen lassen würde. Ein anderer trägt eine gelbe Umhängetasche mit der Aufschrift "Mir kaufet nix, mir gugget bloß". Oder der vollbärtige Hipster mit Basecap, der zwar ein wunderhübsches Xylophon zum Verkauf anbietet, aber keinen Klöppel dazu. Ob er nicht mal einen Ton spielen könnte? "Och, vielleicht nachher, wenn ich ein bissl was geraucht hab'." Dann schnappt er sich aber doch eine Schachfigur und tapst damit ein wenig auf dem Instrument herum. Ein paar Meter weiter zeigt ein Teenager den Kumpels seinen Fang: einen Ritterhelm samt Visier. Und die Jungs so: "Alter, why?"
Wo sonst kann man Kindergartenkindern mal zeigen, wie man früher telefoniert hat?
Tja, warum sich das Phänomen Flohmarkt in Zeiten von Ebay-Kleinanzeigen immer noch hält? Vielleicht weil es ein gar wunderbares Mit- und Nebeneinander auf diesem sonst so kahlen Stück Stadt ist, eine herrlich anarchische Anordnung von Perfektem und Unperfektem, wo die Bierdeckel-Sammlung neben den Hackebeilen liegt, wo ein Türke einen Nussknacker, "Erzgebirge, Original!" verkauft und wo am selben Stand zwei Dutzend Milchkannen und gerahmte Jesus-Bilder zu haben sind.
Immer wieder erstaunlich, was es alles gibt: einen Playmobil-Circus-Maximus samt Löwen und Vierspänner fürs Wagenrennen, medizinisches Besteck zum sofort Losoperieren, Plastiktüten von Prada und Dolce & Gabbana, High Heels mit 30-Zentimeter-Absätzen.
Und wo sonst kann man Kindergartenkindern mal zeigen, wie man früher telefoniert hat? Auf diesem Ding da mit Hörer und Wählscheibe? Ungläubige Blicke beim Nachwuchs.
Doch unter all der gut gelaunten Harmonie blitzt zuweilen auch der Grant hervor. Aus glaubhafter Quelle wird von einem Zwischenfall berichtet, bei dem die Fahne eines Esoterik-Standes im Nachbarstand einschlug, worauf es verbal unschön wurde und ein schlimmer Satz fiel: "Esoterik tötet." Auch der Herr, der einen Boxsack verticken will, muss viel kommunizieren: "Der ist zum Verkaufen, nicht zum Dagegenschlagen! Wenn du mir den ins Porzellan haust, musst halt die Schüssel zahlen."
Die Top Drei der typischen Flohmarktsätze an diesem Tag: "Schatz, jetzt haben wir aber ordentlich zugeschlagen, was?" Gefolgt von "Weißt ja: Du musst es tragen, ewig weit" und "Papi, mir is so heiß!" Die Wetter-App zeigt zwar nur 17 Grad, gefühlt sind es aber doppelt so viel. Schon verständlich, dass es da den einen oder anderen doch noch rüber zum Frühlingsfest zieht, wo aus der Festhalle Bayernland-Blasmusik tönt.
Obwohl es nach den herbstlichen Temperaturen zuletzt eigentlich jeden in die Sonne ziehen müsste, ist das Bierzelt proppenvoll. Auch hier geht es schön schräg zu: Japanerinnen im Dirndl, Feuerwurst halbmeterweise und goldene Geisterbahn-Ausrufe wie "Ui, ein Zombie!"
Der Strom der Flohmarktfreunde reißt bis zum späten Nachmittag nicht ab. Und Svenja, die glückliche Bankkäuferin? Hat offenbar ein Taxi gefunden. Wahrscheinlich sitzt sie längst mit einem kühlen Getränk aus dem Nähkästchen auf ihrem neuen Schmuckstück. Flohmarkt sei Dank.