Therapie:Wo Kinder wichtige Entwicklungsschritte nachholen

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"Es ist Schmarrn, die Kinder immer gewinnen zu lassen", sagt Miriam Fichtner. Sie sollen lernen, es auszuhalten, wenn sie mal verlieren. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Wenn Mädchen und Jungen noch nicht bereit für die Schule sind, bekommen sie Unterstützung in der Heilpädagogischen Ambulanz. Miriam Fichtner betreut dort auch die Eltern.

Von Kathrin Aldenhoff

Die Erzieherinnen aus dem Kindergarten des Mädchens haben es angesprochen. Haben der Mutter empfohlen, mit ihrer fünf Jahre alten Tochter zum Kinderarzt zu gehen, weil sie sich im Kindergarten auffällig verhält. Sie könne sich schlecht ausdrücken, sei distanzlos und übergriffig gegenüber den anderen Kindern. Habe große Schwierigkeiten, sich von ihrer Mutter zu trennen und sei nicht so selbständig wie andere in ihrem Alter. Eine Entwicklungsstörung, die Einschulung ist gefährdet. Für die Mutter war das ein Schock. Für Miriam Fichtner ist das ein klassischer Fall.

Miriam Fichtner ist Heilpädagogin und hat vor zehn Jahren die Heilpädagogische Ambulanz München der Jugendhilfe Oberbayern gegründet. Heilpädagoginnen, Psychologinnen, Ergotherapeutinnen, Logopädinnen, Lerntherapeutinnen und Erzieherinnen behandeln hier Kinder, die sich nicht ihrem Alter entsprechend entwickelt haben, die Probleme im Alltag haben. Die zum Beispiel weniger Worte sprechen, Stifte nur verkrampft halten, ihre Gefühle nicht regulieren können. Die aggressiv sind, körperlich oder geistig beeinträchtigt. Oder auch Kinder, die Mobbing erlebt haben.

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"Es gibt so vielfältige Gründe, warum ein Kind sich nicht gesund entwickelt", sagt Fichtner. "Uns geht es nicht darum, zu bewerten, warum das so ist. Es geht nicht um Schuldzuweisungen. Wir überlegen, wie sich ein Kind oder ein Jugendlicher ideal weiterentwickeln kann." Viele Kinder und Jugendliche, die zu Miriam Fichtner und ihrem Team kommen, haben auf mehreren Ebenen einen Förderbedarf, ihre Probleme werden immer komplexer. Um diese Kinder bestmöglich zu fördern, arbeiten verschiedene Fachkräfte in einem Team. Das fünfjährige Mädchen zum Beispiel geht regelmäßig zur Logopädin, zur Ergotherapie und zur heilpädagogischen Spieltherapie.

Miriam Fichtner und ihre Kolleginnen behandeln in der Heilpädagogischen Ambulanz etwa 120 Kinder im Jahr. Der Fall des fünfjährigen Mädchens ist leicht verändert, um die Familie zu schützen. Es könnte ihn bei ihr aber genau so geben, sagt Miriam Fichtner. Denn auf solche Fälle sind sie spezialisiert. "Bei uns haben die Familien eine Anlaufstelle, wenn ihr Kind in mehreren Bereichen gefördert werden soll", sagt Miriam Fichtner. "Wir gehen ganzheitlich an die Therapie heran, schauen auf die Stärken und Schwächen der jungen Menschen. Wir bieten Hilfen aus einer Hand."

Ein Regal voller Pappschachteln: Mit Brettspielen trainieren Kinder ihre Frustrationstoleranz. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Büros der Kolleginnen sind nur wenige Meter voneinander entfernt - Logopädin, Heilpädagogin und Ergotherapeutin können sich auf kurzem Weg austauschen, Fortschritte besprechen und gemeinsam überlegen, wie sie den Mädchen und Jungen helfen. Auch Elterngespräche führen sie manchmal gemeinsam.

Auf dem Tisch im Werkraum klebt noch die Knete vom Gespräch am Vorabend - das Kind war dabei und hat rote Würste geknetet, während eine Mitarbeiterin von Miriam Fichtner mit Mutter und Vater gesprochen hat. In einer Ecke steht eine Werkbank, an der arbeiten die Kinder mit Holz. "Oft denken die Eltern, 'jetzt bastelt er hier nur'", erzählt Miriam Fichtner. "Aber dahinter stehen Entwicklungsschritte in der Feinmotorik, der Koordination, der Konzentrationsfähigkeit." Die Therapie folge einem klaren Konzept. "Wir wissen, wo wir hinwollen und welche Handlungsschritte es dafür braucht." Die Kinder sollen in der Heilpädagogischen Ambulanz wichtige Entwicklungsschritte nachholen. Und sie sollen gerne herkommen, gerne mitmachen.

Ein wichtiger Bestandteil insbesondere bei jüngeren Kindern ist die heilpädagogische Spieltherapie: Ein großer Raum voller Handpuppen, mit einem Kaufmannsladen, einem Zelt, einer großen Kiste voller Sand ist dafür da. Was gespielt wird, bestimmt das Kind. "Das Kind bearbeitet und verarbeitet Themen über das Spiel. Das läuft sehr frei ab", erklärt Miriam Fichtner. Manche spielen wochenlang nur Mama, Papa, Kind. Die Therapeutin beobachtet, welche Themen das Kind beschäftigen, womit es hadert, womit es kämpft, was es glücklich macht. Manche Kinder schreien einfach, eine Stunde lang.

Im Büro von Miriam Fichtner hängen ein Selbstporträt von Paula Modersohn-Becker, ein Kalender vom Tierpark Hellabrunn, ein Bild von Therapiehund Nila. Ein Sofa steht im Raum, Pflanzen - sie will, dass sich die Eltern wohlfühlen, wenn sie zum ersten Gespräch hier sitzen. Nicht alle kommen gerne, nicht alle sind von Anfang an bereit, sich auf die Therapie einzulassen. Die meisten kommen, weil das Jugendamt oder eine Klinik sie schicken.

Etwa 120 Kinder werden pro Jahr in der Ambulanz betreut - Teddys helfen mit. (Foto: Alessandra Schellnegger)

"Oft sind die Eltern Teil des Problems", sagt Miriam Fichtner. Manche sind selbst traumatisiert, schaffen es nicht, ihren Kindern Grenzen zu setzen oder setzen zu viele, manche haben selbst eine Bindungsstörung. Deshalb sei es wichtig, die Eltern in die Therapie einzubeziehen, sagt sie. Elterngespräche sind Teil der Arbeit ihres Teams.

Seit der Eröffnung vor zehn Jahren ist die Heilpädagogische Ambulanz gewachsen: Angefangen hat Miriam Fichtner im Mai 2009 mit drei Kolleginnen, inzwischen sind sie 17. Und belegen in dem Gebäude in der Nähe des Goetheplatzes nicht mehr nur eine, sondern zwei Etagen. Und im Laufe der Zeit sind nicht nur neue Mitarbeiter und Räume dazugekommen, sondern auch zusätzliche Aufgaben: Das Team betreut auch Kitas und Wohngruppen der Jugendhilfe Oberbayern, besucht Mutter-Kind-Einrichtungen und Schutzstellen für Jugendliche, es gibt Schulprojekte und Legasthenietherapie.

Sie können hier auch herausfinden, ob ein Kind Links- oder Rechtshänder ist. Das ist wichtig, denn wer mit der rechten Hand schreibt, weil alle anderen das auch so machen, aber eigentlich Linkshänder ist, müsse viel mehr Energie aufwenden beim Schreiben. "Diese Kinder haben Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und sind schnell erschöpft", sagt Miriam Fichtner. Sie schulen sie dann zurück, so dass sie lernen, mit ihrer linken Hand zu schreiben.

Das fünfjährige Mädchen, das im Kindergarten so große Probleme hatte, entwickelt sich gut in der Therapie. Trotzdem entscheiden Therapeutinnen, Kinderarzt, Erzieherinnen und Mutter gemeinsam, dass das Kind ein Jahr später in die Schule kommen soll, als ursprünglich geplant. Wenn Kinder den Anforderungen in der Schule noch nicht gerecht werden können, sei es sinnvoll, noch ein Jahr zu warten, sagt Miriam Fichtner. Das gibt den Kindern Zeit, in der Entwicklung aufzuholen.

© SZ vom 05.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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