Süddeutsche Zeitung

Premiere im Residenztheater:Szenen wie aus dem Wimmelbuch

Simon Stones Interpretation von Tschechows "Drei Schwestern" wurde 2016 in Basel uraufgeführt. Es spürt der Frage nach: Was trägt jede einzelne von uns bei, zum persönlichen Glück und Unglück? Nun feiert das Stück Premiere am Resi.

Von Christiane Lutz

Kinder lieben Wimmelbücher, weil sie darin den Lauf des Lebens in sehr vielen Bilddetails beobachten können. Während sich der eine ein Bein bricht, verlieben sich fünf Meter weiter zwei auf der Parkbank. Umgeblättert: Der Verletzte kann wieder gehen, die Verliebten heiraten (natürlich). Diese Gleichzeitigkeit von Glück und Unglück ist eine Stärke der Bücher. Und auch die Möglichkeit, Glück überhaupt als solches zu erkennen. Vielleicht hat der Regisseur Simon Stone an diese Bücher gedacht, als er Tschechows "Drei Schwestern" 2016 am Theater Basel inszenierte. Jedenfalls sieht es so aus, wenn man das schicke Ferienhaus betrachtet, in das er das Personal hineinsetzt.

Ein drehbares architektonisches Wunderwerk von Lizzie Clachan, von jeder Seite für den Zuschauer einsehbar. Während am Esstisch einer weint, sitzt oben einer auf der Toilette. Während im Wohnzimmer Weihnachtslieder gesungen werden, streitet in der Küche ein Ehepaar. Schwere und Belanglosigkeit, erzählt dieses Haus, finden immer irgendwo gleichzeitig statt. Das macht die Schwere absurder, die Leichtigkeit aber auch. Stone führte seine Kunst in "Drei Schwestern" aufs Feinste vor, die filmischen Dialoge, schnelle Schnitte, die ihn berühmt gemacht haben, funktionieren hier bestens. Er hat Tschechows Text nicht übernommen, er hat einen neuen geschrieben. Die Inszenierung wurde 2017 zum Theatertreffen eingeladen und von Zuschauern wie Presse begeistert aufgenommen.

Kein Wunder, dass Intendant Andreas Beck die "Drei Schwestern" mit nach München brachte. Nebenbei ist dies nun die erste Residenztheater-Premiere von Stone, der mit einer anderen eigentlich die Spielzeit eröffnen sollte, aber absagte, weil er spontan die Finanzierung für ein Netflix-Filmprojekt bekam. Die "Drei Schwestern" funktionieren auch in München hervorragend. Stone hat die perfekte Übertragung der Geschichte in die Gegenwart geliefert, ohne das Original zu verraten.

Die Probleme, die die Figuren haben, hat Stone gestressten Mittdreißigern aus mittelgroßen Städten abgeschaut. Die drei Schwestern und ihr Bruder Andrej treffen sich im stylishen Ferienhaus der Familie. Sie bringen ihre Partner mit, es geht um Langzeitbeziehungen, um Work-Life-Balance und die Suche nach dem perfekten Prosciutto-Schneider. Der in Strömen fließende Alkohol macht alles gleichzeitig schlimmer und besser.

Wo bei Tschechow Langeweile herrscht, sind die Figuren bei Stone quasselnde, aber müde Arbeitstiere, die es sich am Wochenende mal schön machen wollen. Getriebene, die ständig am eigenen Glück feilen, und es doch nicht zu fassen kriegen. Andrej (Nicola Mastroberardino) ist ein kiffender Schluffi, der eine App programmieren will, aber seinen Computer verloren hat. Seine Schwester Irina (Liliane Amuat) hat Geisteswissenschaften studiert und will nicht wie bei Tschechow nach Moskau, sondern nach Berlin. Als Flüchtlinge kamen, wollte sie gern helfen, aber dann musste sie doch diese eine Serie weiterschauen. Ihr Freund langweilt sie. Über allem schwebt ein Gefühl von: Das müsste doch besser gehen.

Die Zeit verstreicht, der Schnee fällt lautlos aufs Haus, Kinder werden geboren, Beziehungen beendet und wieder aufgenommen, Andrej gibt vor, clean werden zu wollen. Der Zuschauer blickt durch die riesigen Fenster ins weihnachtlich dekorierte Wohnzimmer und sieht, dass nichts besser geworden ist, im Gegenteil, Trump ist jetzt Präsident. Die Schauspieler gleiten ungeheuer gut eingespielt durchs Wimmelbild, lassen sich willig von allen Seiten in Freud, Leid und beim Pinkeln beleuchten. Bei aller Liebe zur Rasanz und zum knallharten Wortwitz schafft Stone in diesen "Drei Schwestern" doch Momente der Melancholie und ungeheuren Traurigkeit. Unglück wird nicht hübscher, wenn man es mit Lametta behängt, Unglücklichseinwollen erst recht nicht. Denn dahin steuert Stones Inszenierung: Das Unglück der Figuren ist ein selbst gewähltes. Denn die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben sind, anders als zu Tschechows Zeiten, doch eigentlich gegeben.

Drei Schwestern, Montag, 11. Nov., 19.30 Uhr, Residenztheater

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SZ vom 06.11.2019/syn
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