Ayşe Güvendiren:Ein Mord in Dresden wird zum Theaterstück in München

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"Ich will, dass man ihren Namen kennt", sagt Ayşe Güvendiren. Gerade hatte ihr Theaterstück "Recht(s) - Über das Verbrechen an Marwa el-Sherbini" Premiere. (Foto: Robert Haas)

18 Messerstiche in zweieinhalb Minuten: Vor zehn Jahren wurde Marwa el-Sherbini von einem Rechtsradikalen erstochen. Die Regie-Studentin Ayşe Güvendiren hat den Fall nun für die Bühne inszeniert.

Von Elisa Schwarz

Es geht ja nicht nur um die verdammte Schaukel. Es geht um so viel mehr. Also hebt Ayşe Güvendiren die Hand im Theater HochX in der Entenbachstraße. Die Luft ist stickig, sie proben schon seit zwei Stunden. "Das mit der Schaukel müssen wir krasser machen", sagt sie zu den Schauspielern. "Jannik, wiederhol lieber noch mal den Satz vom Anfang." Jannik Mioducki schaut in die leeren Zuschauerreihen und sagt: "Man müsste ihren Sohn zu Tode schaukeln, damit er nicht selbst zu einem Drecks-Dschihadisten wird." Es ist dann für einen Moment still. So viele Male geprobt das Ganze. Aber wie will man sich an einen Satz gewöhnen, der nicht von einem Regisseur stammt, sondern von einem rechtsradikalen Mörder, verurteilt zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

Vor zehn Jahren wurde die ägyptische Apothekerin Marwa el-Sherbini in einem Dresdner Landgericht erstochen. 18 Mal stieß Alex W. ein japanisches Kampfmesser in den Körper der schwangeren Frau. Weil sie ein Kopftuch trug. Weil sie ihn angezeigt hatte, wegen eben jenes Satzes, den er auf dem Spielplatz zu ihr sagte, als sie ihn bat, die Schaukel für ihren dreijährigen Sohn freizumachen. Weil es in der Welt des Rechtsradikalen keinen Platz gab für Ausländer. Nicht auf der Schaukel. Und nicht in der Gesellschaft.

Mit dem Fall taten sich die Medien und Politik schwer. Es gab kaum Berichterstattung in den Tagen nach dem Vorfall, der islamfeindliche Hintergrund des Täters blieb lange unerwähnt. Viele Fragen blieben unbeantwortet. Alex W. hatte zweieinhalb Minuten Zeit, auf el-Sherbini und ihren Mann einzustechen, der sich vor seine Frau stellte und vor den Sohn, der im Blut seiner Mutter stand. Zweieinhalb Minuten. Und als dann ein Polizist herbeieilte, schoss er nicht auf den Täter, sondern auf Elwy Ali Okaz, den Mann von el-Sherbini. Wie konnte das passieren? Warum kontrollierte niemand die Tasche des Angeklagten?

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"Schaukelstreit hieß es lange", sagt Güvendiren, 30. Sie sitzt vor dem Theater, überlegt zu rauchen, lässt es sein. Ihre dunklen Haare sind etwas nachgewachsen, seit sie sich vor eineinhalb Jahren den Kopf kahl rasiert hatte, einfach so. Schaukelstreit. "Dieser Begriff hat mich wahnsinnig aufgeregt."

Güvendiren ist Studentin an der Otto-Falckenberg-Schule. "Recht(s) - Über das Verbrechen an Marwa el-Sherbini" ist ihr Theaterstück, ihr Jahresprojekt als Regie-Studentin. Seit vier Wochen probt sie mit ihren Schauspielern die Szenen, die Übergänge. Denkt sich in die Figuren ein. In Alex W., der von der europäischen Rasse schwadronierte, bevor er auf el-Sherbini und ihren Mann losging, völlig ungehindert. In die Gerichtspolizei, die keine Schuld bei sich sah - eine Tragödie, klar, aber wer hätte ahnen können, dass Alex W. gewaltbereit war?

"Sie stirbt in den Armen der Justiz"

"Ich will, dass man den Namen kennt. Marwa el-Sherbini", sagt Ayşe Güvendiren. "Und sie stirbt nicht irgendwo, sie stirbt in den Armen der Justiz."

Politisches Theater ist immer auch eine Gratwanderung, das konnte man bei den Inszenierungen der NSU-Mordserie beobachten. Da wurde hysterisch gekreischt, geliebt, in "Der Weiße Wolf" war das Täter-Trio ein psychopathischer, dauergeiler Haufen. Hilflos wirkte das, monströs. Vielleicht auch, weil der Prozess gegen Beate Zschäpe die Republik erschütterte, die Aufarbeitung, die Fehler der Justiz - all das wirkte schon so unglaublich, dass die Theaterwelt sich offensichtlich schwer tat, ein eigenes Narrativ zu finden. Bei dem Fall el-Sherbini gab es keinen großen Aufschrei in den Medien. Ein schwarzer Fleck, bis heute, auch in der Theaterszene. Wie nähert man sich so einem Fall? Und warum

Güvendiren sagt, es kam wie ein Blitz, die Idee mit dem Theaterstück. Auf Instagram lief gerade die "ten-years-challenge". Stars posteten ein Bild von sich und ihrem zehn Jahre jüngeren Ich. Es ging um Alter und Wandel, und häufig sah man keinen großen Unterschied. Güvendiren jedenfalls interpretierte die Challenge anders. "Was war denn 2009, also was war da los?" Da fiel ihr der Name ein: Marwa el-Sherbini. Und weil ihr nicht mehr einfiel als dieser Name, wurde sie stutzig. Sie schmiss ihren Plan über den Haufen, "Schwester von" zu inszenieren; ein Stück, in dem es um Ismene geht, die Tochter des Ödipus, die immerzu im Schatten ihrer erfolgreichen Schwester steht. Stattdessen fing Güvendiren an, Berichte zu lesen, die wenigen, die im Internet zu finden waren. Fand ein Buch von der Stadt Dresden und die Falldokumentation des Menschenrechtsanwalts Eberhard Schultz. Sie rief Freunde an, die in der Justiz arbeiteten, was denn in den Archiven zu dem Fall zu finden sei? Und sie fragte eine Schauspielerin aus Dresden, wie Johannstadt eigentlich aussehe, der Ort, in dem el-Sherbini auf Alex W. traf.

Auf der Bühne üben sie jetzt die Schaukel-Szene noch mal. Güvendiren sitzt auf den Stufen, 23 Seiten Skript neben sich, ein Laptop, eine Brötchentüte. Sie sagt: "Alex W. war nicht wahnsinnig schüchtern, der hat sich richtig wichtig genommen." Sie geht nach vorne zur Bühne, baut sich auf und sagt, was Alex W. vor zehn Jahren schrie: Schlampe. Terroristin. Dschihadistin. "Ihr müsst richtig laut sprechen, das ist Teil der Erzählung." Güvendiren arbeitete lange an den Szenen, dachte sich poetische Skizzen aus, tagelang. Nüchtern sollte alles sein, nüchtern, weil die Zitate allein emotional genug sind. Gerade die Eskalation an der Schaukel, die für Güvendiren die Schlüsselszene ist. Auch, weil die Schaukel für einen Teil der Justitia steht. Als Symbol für die Waage, auf der die Gerechtigkeit abgewogen wird, sagt Güvendiren. Und an Gerechtigkeit glaube sie nach wie vor.

Güvendiren wurde in Wien geboren, ihre Mutter ist Türkin, der Vater Kurde. Mit fünf kam sie nach München, studierte später in Augsburg Jura mit dem Schwerpunkt türkisches Recht. Sie sagt, dass sie wissen wollte, was Gerechtigkeit ist. Was da eigentlich mit der Justiz los ist, wenn ein Mensch in seiner Zelle in Dessau verbrennt und jahrelang geglaubt wird, er hätte sich umgebracht, wie im Fall von Oury Jalloh, einem Asylbewerber aus Sierra Leone.

Güvendiren stand kurz vor ihrem Examen, als sie krank wurde. Zuerst Blinddarmentzündung, dann Lebensmittelvergiftung, dann stach sie ein infiziertes Insekt ins Bein. Zehn Tage lag sie auf der Intensivstation. Der Arzt sagte, ihr Zustand sei ernst. Darum dachte sie noch einmal nach, was sie wirklich möchte im Leben. Güvendiren brach ihr Jura-Studium ab und bewarb sie sich an der Otto-Falckenberg-Schule für eine Regie-Ausbildung. Zur Aufnahmeprüfung brachte sie ein selbstgebasteltes Miniatur-Bühnenbild mit. "Du Freak", sagten ihre Freunde. Güvendiren bekam einen Ausbildungsplatz. Einen von zwei pro Jahr.

Am Tag der Premiere ist das HochX fast voll. Still ist es. Einmal stöhnt eine Zuschauerin "Oh Gott", als auf einer Leinwand ein Handy-Display gezeigt wird. Ein Timer läuft darauf, zweieinhalb Minuten lang. Aus dem Off zählt eine Stimme bis 18. 18 Messerstiche in einer halben Ewigkeit. Genau das sei es, was Theater könne: "Krass reinhauen", aufrütteln, ohne zu überdrehen, hatte Güvendiren vor dem Theater gesagt. Nicht das Offensichtliche darstellen, nicht die Tatsache, dass Alex W. ein rechtsradikaler Mörder war. Das Kleine, das Leise sei kritisch, der "Hab dich nicht so"-Rassismus. Einmal, als sie sich den Kopf kahl geschoren hatte, band sie sich einen Turban um den Kopf. Da wurde sie nach ihrem Ausweis gefragt, in der Firma, in der sie hospitierte. Einfach so, sagt Güvendiren. Oder auch Türkenwitze unter Freunden - nicht lustig. Ayşe ohne Serif am s - keine Kleinigkeit. "Wenn die deutsche Gesellschaft gelernt hat, Dostojewski richtig zu schreiben, warum kann sie dann nicht lernen, wie man zum Beispiel Ayşe schreibt?"

Nach der Vorführung drückt eine Frau vorsichtig die Tür zum Garderobenraum auf. Sie umarmt Güvendiren, redet türkisch mit ihr, gratuliert. Weint. Güvendiren unterhält sich leise mit der Frau, legt ihr die Hand auf die Schulter, in der anderen hält sie eine Flasche alkoholfreien Sekt. "Wahnsinn, Ayşe, Wahnsinn", sagt die Frau auf Deutsch. Es ist Freitag, 5. Juli. Der Tag, an dem Marwa el-Sherbini beerdigt wurde.

© SZ vom 09.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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