Als Simon Rattle im Jahr 2002 sein Antrittskonzert als neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker gab, setzte er Gustav Mahlers Fünfte Symphonie aufs Programm. Und als er sich dort 2018 als Chef wieder verabschiedete, war es die Sechste. So standen die großformatigen Werke des Wiener Komponisten immer wieder an Scharnierstellen im Lebenslauf des britischen Dirigenten. Erst im vergangenen Sommer hat Rattle mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks die "Rückert-Lieder" musiziert, deren Solopart seine Frau, die Mezzosopranistin Magdalena Kožená, übernahm. Da galt noch als Gerücht, was im Januar dieses Jahres in Verträge gegossen wurde: dass Rattle von 2023 an der neue Chefdirigent der BR-Symphoniker sein wird. Beim Benefiz-Konzert für den SZ-Adventskalender an diesem Freitag wird er sein künftiges Orchester nun durch Mahlers letzte vollendete, die Neunte Symphonie führen.
Wie sich die Liaison zwischen Rattle und den BR-Symphonikern an diesem Abend entwickelt, werden freilich nur wenige Hörer live überprüfen können. Gerade mal 450 von 1800 Plätzen dürfen nach den neuen Regelungen der bayerischen Staatsregierung in der Isarphilharmonie besetzt werden. Alle anderen Hörer müssen, wie bereits im vergangenen Jahr, mit dem Stream vorliebnehmen. Dass nicht mehr Menschen das Konzert direkt im Konzertsaal erleben können, ist in mehrfacher Hinsicht ärgerlich.
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Zum einen, weil die Kartenerlöse des Konzerts am Freitag dem Projekt "Musik für alle Kinder" zugutekommen, das Kindern aus sozial schwachen Familien Zugang zu Musik- und Instrumentalunterricht verschafft und damit mittelbar auch künftige Konzertbesucher heranzieht. Zum anderen aus rein musikalischer Perspektive, weil sich nur vor Ort nachvollziehen lässt, wie Rattle mit der Akustik in der neuen Isarphilharmonie umgeht. Bereits am vergangenen Montag hätte er dort eigentlich Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion dirigieren sollen, hier blieb es ganz beim Stream aus dem Herkulessaal, entstanden in der Vorwoche.
Dabei dürfte die Konzertsaalfrage zu den wesentlichen Gründen gehören, warum der Bayerische Rundfunk bei der Nachfolge von Mariss Jansons auf Rattle gesetzt hat, liegen doch diesem angemessene Orte für die Musik ebenso am Herzen wie seinem Vorgänger. Als Rattle 1980 mit 25 Jahren zunächst erster Kapellmeister, zehn Jahre später dann Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra wurde, da formte er aus dem Klangkörper nicht nur ein weltweit renommiertes Orchester. Die englische Stadt errichtete maßgeblich auf sein Betreiben mit der Symphony Hall auch einen neuen Konzertsaal.
Der Konzertsaal ist Chefsache
Auch als er 2017, nach seinem Abschied von Berlin, das London Symphony Orchestra übernahm, gehörte seine Stimme zu den energischsten für einen neuen Konzertsaal in London. Dass dieser aufgrund der pandemischen Leere in den öffentlichen Kassen vorerst nicht gebaut wird, darf man zu den Gründen zählen, warum Rattle 2023 lieber nach München wechselt. Doch auch in Bayern dürfte in den kommenden Jahren die Finanzierung von neuen Großbauten schwierig werden.
Umso wichtiger wird nun der persönliche Einsatz des Chefdirigenten sein, dass auch die BR-Symphoniker ihren geplanten neuen Konzertsaal im Werksviertel hinter dem Ostbahnhof erhalten. Schließlich gilt Rattle als guter Kommunikator, der mit seinem Charme Politiker und Sponsoren bestricken kann, aber auch als zäher Verhandler, der etwa vor seinem Amtsantritt bei den Berliner Philharmonikern erst einmal Gehaltserhöhungen für die Musiker durchsetzte.
Wie Rattle damals überhaupt noch als ungewöhnliche Besetzung für den Chefposten beim renommiertesten aller deutschen Orchester gelten durfte. Schon dass er ursprünglich als Schlagzeuger begonnen hatte, verschaffte ihm einen Ruf, der erfrischend, auf manche aber auch erschreckend wirkte. Dass bei der Repertoirewahl Beethoven, Brahms und Bruckner erst einmal in den Hintergrund traten, stieß bei Traditionalisten nicht unbedingt auf Gegenliebe.
Stattdessen förderte Rattle Randbereiche, die bis dahin - und mancherorts bis heute - eigentlich nicht als Chefsache galten. So beschäftigte er sich als einer der ersten traditionell ausgebildeten Dirigenten intensiv mit historischem Instrumentarium und den entsprechenden Spieltechniken und brachte Impulse einer historisch inspirierten Aufführungspraxis in die Arbeit mit Symphonieorchestern ein.
Doch nicht nur das 18. Jahrhundert hat in ihm immer wieder einen starken Anwalt gefunden, sondern auch die Musik des späteren 20. und 21. Jahrhunderts. Dass er im März dieses Jahres die BR-Symphoniker selbst bei einer Uraufführung für die Konzertreihe Musica Viva leitete, setzt diese Linie fort.
Vieles, was Rattle initiierte, hat sich durchgesetzt
Den Begriff der "Neuen Musik" hat Rattle dabei gleichwohl immer verschmäht, weil seine Offenheit sich immer auch auf nicht-klassische Musikformen erstreckte. So hat er unter anderem mit der "Swing Symphony" den Grenzgang zum Jazz gesucht, indem er gemeinsam mit dem Trompeter Wynton Marsalis ein Tanzprojekt für 170 Schüler und Jugendliche ins Leben rief. Es schloss unmittelbar an das legendäre "Rhythm Is It!" an, bei dem Rattle im Jahr 2004 zu Igor Strawinskys "Sacre du printemps" 239 Jugendliche aus 25 Nationen gemeinsam zum Tanzen gebracht hatte.
Auch hier leistete Rattle Pionierarbeit, lange bevor "Education" zum regulären Bestandteil in Orchesterprogrammen wurde. Dazu passt, dass das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks über den neuen Konzertsaal im Werksviertel auch seine Bildungsarbeit ausbauen möchte. Wie sich überhaupt vieles von dem durchgesetzt hat, was Rattle initiiert hat. Für viele jüngere Dirigenten gilt es als selbstverständlich, sich mit der historischen Aufführungspraxis ebenso auseinanderzusetzen wie mit zeitgenössischer Musik. Doch Rattle bleibt sozusagen das Original, von dessen Erfahrungen die BR-Symphoniker in den kommenden Jahren profitieren werden.
Konzert-Stream
Viele SZ-Leserinnen und Leser werden es bedauern, dass sie nun doch kein Ticket für das Benefizkonzert zugunsten des SZ-Adventskalenders mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) unter seinem künftigen Chefdirigenten Sir Simon Rattle ergattern konnten. Nachdem aufgrund der Corona-Vorschriften die Publikumsgröße reduziert werden musste, wurde der Verkauf der Eintrittskarten neu aufgerollt. Die verbliebenen 450 Tickets waren binnen Stunden verkauft. Alle bereits erworbenen Tickets wurden automatisch storniert, der Kaufpreis wird rückerstattet. Musikliebhaber können das Konzert dennoch per Livestream unter sz.de/benefizkonzert verfolgen. Abrufbar ist es zudem unter www.br-klassik.de/concert oder unter der Webpage des Symphonieorchesters.