Süddeutsche Zeitung

Münchner Universitäten:"Sie verstehen aber nicht, was ich mache"

Im teuren München ist Studieren eher eine Angelegenheit für junge Menschen mit reichen Eltern. Arbeiterkinder sind hier schon seit Längerem in der Unterzahl - und Corona hat ihre Situation verschärft.

Von Lea Kramer

Daheim, in einem kleinen Ort im Bayerischen Wald zwischen Passau und Deggendorf, war wenig Verständnis da, als Jenny Hansjürgen berichtete, dass sie zum Studieren nach München gehen will. "Arbeit hat einen großen Wert. Die Idee, sich nach der Ausbildung keinen guten Arbeitsplatz zu suchen und auf Gehalt zu verzichten, schien völlig verrückt", sagt sie. Jenny Hansjürgen hat sechs Geschwister. Die Mutter ist Beiköchin, einen Vater gibt es nicht in ihrem Leben. Hansjürgen hat eine Ausbildung zur Altenpflegerin abgeschlossen, das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt. Seit dem Wintersemester studiert sie Humanmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) - als erste in der Familie.

Damit gehört die 25-Jährige dem Hochschulbildungsreport zufolge zu den 27 Prozent der Kinder aus einem Nichtakademiker-Haushalt, die später ein Studium beginnen. Bei Kindern von Akademikern gehen 79 Prozent an die Universität. Nichtakademiker-Kinder, Arbeiterkinder oder Studenten der ersten Generation: Unter diesen Begriffen werden all jene zusammengefasst, bei denen kein Elternteil studiert hat. Sie haben es an der Hochschule schwerer als Kinder aus Akademikerfamilien. Die Pandemie scheint ihre Situation verschärft zu haben - dabei waren die Arbeiterkinder gerade dabei, aufzuholen.

Der Hochschulbildungsreport, der vom Stifterverband der Deutschen Wirtschaft und der Unternehmensberatung McKinsey herausgegeben wird, hat für Arbeiterkinder jüngst eine sinkende Abbrecherquote verzeichnet. 76 Prozent von ihnen schließen demnach ein Bachelor-Studium ab, bei den Akademikerkindern sind es 82 Prozent. "Der Anteil aller Nichtakademiker-Kinder, die promovieren, hat sich auf zwei Prozent verdoppelt. Bei Akademikerkindern sind es sechs Prozent", heißt es dort.

Nicht einmal zehn Prozent der Studierenden sind auf staatliches Bafög angewiesen

Die Münchner Hochschulen erheben keine Daten zum Bildungsstand der Eltern oder der wirtschaftlichen Situation im Elternhaus ihrer Studierenden. Eine Auswertung des Münchner Studentenwerks aus dem Jahr 2020 zeigt aber, dass von den mehr als 130 000 Studenten und Studentinnen der 15 Münchner Hochschulen nur 9676 Studierende eine staatliche Förderung aus dem Bundesausbildungs­förderungs­gesetz (Bafög) erhalten haben. Ähnlich viele - 9106 - haben einen Antrag auf Überbrückungshilfen bewilligt bekommen. Ein finanzieller Zuschuss, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Corona-Pandemie eingeführt hat. Mehr als 90 Prozent der Münchner Studierenden und ihrer Eltern haben also so viel Vermögen oder Einkommen verfügbar, dass sie sich nicht für staatliche Förderungen qualifizieren.

Auf Medizinstudentin Jenny Hansjürgen trifft das nicht zu. Sie erhält Bafög und lebt von einem Stipendium. Damit sie damit auskommt, ist sie an den nordöstlichen Münchner Stadtrand gezogen. Ein digitalerer Studienalltag komme ihr entgegen, weil sie nicht täglich an die Uni fahren müsse und so in ihrem eigenen Tempo lernen könne. "Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, Wohnkosten zu sparen. Und jetzt wohne ich hier mietfrei bei einer älteren Frau", sagt sie. "Wohnen für Hilfe" heißt das Projekt, das seit 25 Jahren Studierende und Ältere mit Platz in der Wohnung zusammenbringt.

Wer allerdings neben dem Studium arbeiten muss, den hat die Pandemie getroffen. Im Sommersemester 2020 hat das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) Studierende deutschlandweit zu ihrer Situation befragt. Das Ergebnis: "Bisherige Befunde zeigen, dass sich die finanzielle Situation einiger Studierender durch Einschnitte in ihrer Erwerbstätigkeit und geringere Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern (aufgrund von Kurzarbeit oder anderen pandemiebedingten Einkommenseinbußen) tatsächlich nachhaltig verschlechtert hat", heißt es in der Januar-Analyse. In einer vorangegangenen Umfrage hatten zwei Drittel der Arbeiterkinder angegeben, dass sie neben dem Studium arbeiten müssten.

An der LMU wurde eigens ein Anti-Klassismus-Referat gegründet

Dass Jenny Hansjürgen nicht zu dieser Gruppe gehört, hat auch damit zu tun, dass sie sich während des Abiturs an den Verein "Arbeiterkind" gewandt hatte. Die bundesweite Initiative setzt sich dafür ein, dass mehr Arbeiterkinder studieren. Sie stellt vor allem Informationen zu Fördermöglichkeiten für Kinder aus Nichtakademiker-Haushalten bereit und motiviert sie, Vorbehalte über Bord zu werfen. Außerdem werden Studienwillige mit Mentoren auf lokaler Ebene vernetzt, die sie bei individuellen Fragestellungen beraten.

Einer der Münchner Mentoren ist Franz Leipfinger. "Mein Vater ist Landmaschinenmechaniker, meine Mutter Kinderkrankenschwester", sagt er. Sie seien nicht gegen sein Studium gewesen, "sie verstehen aber nicht, was ich mache". Leipfinger ist Jurist, seit vier Jahren engagiert er sich ehrenamtlich bei Arbeiterkind. Dort vermittelt er zwischen Eltern und Kindern, gibt Tipps für Gespräche mit Professoren oder hilft bei Formalitäten. "Wir beobachten, dass für viele die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen, sehr hoch ist", sagt er.

Eine Rampe, um diese zu überwinden, wollte auch Felix Gaillinger bauen, als er vor eineinhalb Jahren das Anti-Klassismus-Referat an der LMU gegründet hat. Es ist eine Interessenvertretung für Studierende, die aufgrund ihrer Klasse von ungleichen Teilhabe-Chancen betroffen sind: "Arbeiter*innen und Arbeiter*innenkinder, Working Poor, Studierende mit Hartz-IV-Erfahrung und weitere", heißt es in der Selbstbeschreibung. Bei der Referatsgründung hatte Gaillinger sein Studium fast abgeschlossen. Er fuhr Blutkonserven durch München, um sich zu finanzieren.

Heute arbeitet der Kulturwissenschaftler selbst an der Uni - "im akademischen Mittelbau", wie er sagt. "Meine Mutter war alleinerziehend, ohne höhere Schulbildung. Sie hat meinen Wunsch unterstützt, hatte aber keine Mittel." Das Referat solle eine Anlaufstelle sein, um sich über solche Erfahrungen auszutauschen und zu solidarisieren. Langfristig sollen so die Strukturen im Hochschulbetrieb verbessert werden. "Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, habe ich als Einzelschicksal gesehen", sagt er. Allein könne man gesellschaftliche Probleme aber nicht lösen.

Die Corona-Pandemie hat die Engagierten zurückgeworfen. Zu Beginn des Wintersemesters gab es unter dem Titel "Kritische Einführungswochen" eine Reihe von Informationsveranstaltungen, nun findet vieles online statt. "Wir machen Lesekreise, haben Demos mit organisiert. Aber: Wir mischen uns auch ein, wenn in der Mensa die Preise erhöht werden", sagt Markus Striese, Sprecher im Referat. Er studiert Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie, auch er wurde dafür kritisiert, dass er studieren wollte. "Ich soll mir ein schönes Leben machen, hieß es nach meiner Ausbildung", sagt er.

Striese hat einen Hauptschulabschluss, Außenhandelskaufmann gelernt und später einen Meistertitel erworben. Er habe oft gerungen, ob er sein Studium beenden könne, "aber jetzt habe ich ein Stipendium bekommen", sagt er. Deshalb setzt er sich mit dem Anti-Klassismus-Referat für die Bafög-Reform und die Rückkehr des Vollzuschusses ein - dass also Geförderte künftig kein Geld mehr an die Staatskasse zurückzahlen müssen.

In München beantragen nur vergleichsweise wenige Studierende diese staatliche Unterstützung. Die Regionalauswertung der 21. Sozialerhebung ergab, dass 76 Prozent der Münchner Studierenden überhaupt keinen Antrag stellen. Die Auswertung hat das DZHW im Jahr 2016 vorgenommen, aktuellere Daten sind noch nicht publiziert. In dem Papier heißt es, dass Studierende aus München ihr Studium deutlich seltener aufgrund finanzieller Probleme unterbrechen als im Rest des Landes. Nur sechs Prozent geben an, zwischenzeitlich arbeiten gehen zu müssen, deutschlandweit waren es 16 Prozent.

Insgesamt seien mit 32 Prozent im Vergleich zum Rest von Bayern (37 Prozent) in München weniger Arbeiterkinder immatrikuliert, heißt es in der Sozialerhebung. Jenny Hansjürgen, Felix Gaillinger und Markus Striese sind also Teil einer Minderheit. Sie wollen dazu beitragen, dass es für Menschen mit ähnlicher Herkunft in Zukunft weniger Barrieren gibt.

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