Süddeutsche Zeitung

Studie:Kinder erkennen immer weniger Tierarten

Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität. Nicht einmal ein Fünftel der Befragten identifizierte Buchfink und Bussard.

Von Sabine Buchwald

Obwohl man vom Maulwurf in der Natur selten mehr als seine Hügel sieht, gehört er zu den bekanntesten heimischen Säugetieren. Womöglich weil er als ausgewiesen kleiner Freund zwischen Buchdeckeln in vielen Kinderzimmern wohnt? Vielleicht weil seine Art durch die Geschichten der Zeichner Zdeněk Miler und Wolf Erlbruch so populär geworden ist?

Andere heimische Tiere erkennen bayerische Kinder jedenfalls immer weniger. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Wissenschaftler Thomas Gerl und Birgit Neuhaus an der Ludwig-Maximilians-Universität. Zusammen mit dem Tübinger Forscher Christoph Randler haben sie 1000 Sechstklässler aus Gymnasien in München und anderen Teilen Bayerns befragt. Sie wollten wissen, ob noch bekannt ist, was auf Wiesen und in Wäldern so kreucht und fleucht.

Feuersalamander, Buntspecht und Biber gehörten dazu. Den Kindern wurden Bilder von 25 verschiedenen Tieren gezeigt. Durchschnittlich konnten sie etwa 14 Arten richtig benennen. Neben charismatischen Tieren wie dem Maulwurf wurde das putzige Eichhörnchen am besten erkannt. Von Vogelarten hatten die Teilnehmer am wenigsten Ahnung. Insgesamt schnitten die jungen Teilnehmenden schlechter ab als bei einer ähnlichen Erhebung im Jahr 2006.

Im Vergleich erzielten sie 15 Prozent weniger Punkte. Bemerkenswert bei den Mädchen immerhin: Sie waren erfolgreicher als die Jungs. Kinder, die angaben, gerne draußen zu spielen, waren besser als bekennende Sofasurfer, egal ob Großstadtkid oder Landei. Wo jemand aufwächst, spielt anscheinend für die Artenkenntnis keine entscheidende Rolle.

Bei Buchfink und Bussard, Rebhuhn und Star zeigten die Kinder übrigens die größten Schwierigkeiten. Diese Vögel erkannte nicht mal ein Fünftel der Befragten. Vielleicht sollten sich Kinderbuchautoren mal ihrer annehmen, frei nach dem Bestseller von Wolf Erlbruch und Werner Holzwarth: Wer hat dem kleinen Star auf den Kopf gemacht?

Die Ursachen für den Wissensschwund können die Wissenschaftler mit ihrer Studien nicht belegen. "Wir können aber beschreiben, was gleichzeitig aufgetreten ist", erklärt Gerl auf Nachfrage. Eine Rolle spielten sicherlich die im Lehrplan für den Biologieunterricht vorgegebenen Lernziele, die in den vergangenen Jahren nicht unbedingt auf Artenkenntnis ausgerichtet gewesen seien. Sicher ist: die Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler haben sich verändert. Selbst jüngere Kinder verbringen mehr Zeit mit Medien als noch vor zehn oder 15 Jahren. Tiere, die durch Filme, Lesebücher oder als Comicfiguren beliebt geworden sind, werden auch erkannt. Angenommen, Nemo wäre kein Clownfisch, sondern ein Karpfen, dann wäre diese Fischart in der Bekanntheitsskala der Münchner Studie wohl nicht um acht Ränge nach unten gerutscht.

Obwohl Biber und Dachse im Alltag kaum live zu erleben seien, hätten die meisten der Studienteilnehmer keine Probleme sie zu benennen, sagt Gerl. Auch das Reh, vulgo Bambi, gehört laut Gerl dazu. Warum Kinder aus ländlichen Gebieten nicht bessere Tierexperten sind als ihre Artgenossen aus der Stadt, erklärt Gerl so: "In Stadtgebieten sind viele ökologische Nischen, wo sich heimische Tiere wohlfühlen." Teilweise gebe es sogar variantenreichere Orte als in landwirtschaftlichen Gebieten, wo häufig Mais und Raps dominierten. Zudem seien Stadttiere Menschen gewohnt. Da sie deshalb weniger schreckhaft seien, ließen sie sich bereitwilliger beobachten.

"Wir erleben gerade eine große Biodiversitätskrise"

Das allein aber erweitert den Horizont noch nicht. Ute Fischer, erfahrene Biologielehrerin an einem Münchner Innenstadtgymnasium, bestätigt die zunehmende Unwissenheit in ihren Klassen. "Es ist frustrierend, was die Kinder alles nicht wissen über Pflanzen und Tiere", sagt sie.

Gerne würde sie den Schülern der unteren Jahrgänge die heimische Artenvielfalt näher bringen. Die Lehrpläne für das G 9 ließen das ihrer Meinung nach aber nur schwer zu. Weil zu viel Wert auf andere Kompetenzen gelegt werde, bleibe zu wenig Zeit dazu. Dabei hätten die Kinder in diesem Alter eigentlich "wahnsinnig Lust, etwas über Tiere und Pflanzen zu lernen". Der Lehrplan komme den Kindern und ihrer Interessenlage zu wenig entgegen. Sie fragt sich, wie man als Lehrkraft bei den Schülern die Liebe zur Natur wecken soll.

Auch Gerl unterrichtet Biologie an einem Gymnasium. Nebenbei promoviert er an der LMU und ist dort als "abgeordnete Lehrkraft zur Stärkung des Praxisbezugs in der Lehre" tätig. Er habe ein Faible für heimische Tiere, sagt er. "Wir erleben gerade eine große Biodiversitätskrise. Jede Stunde verschwinden Arten für immer." Ohne Artenkenntnisse bemerke man gar nicht, was verloren gehe. Mit dem Bisa-Projekt des Lehrstuhls Didaktik der Biologie an der LMU versucht er gegenzusteuern. Bisa, das steht für Biodiversität im Schulalltag und erinnert nicht ungewollt an die Pisa-Studie. Spielerisch wird auf der Webseite www.bisa100.de Wissen über Tiere, Bäume und Blumen vermittelt. In Bildern, Quizfragen und kurzen Texten begegnet der Besucher Klatschmohn und Kreuzkröte, Bergahorn und Bockkäfer.

Es gibt wenig, was sich in der derzeitigen Lage zum Positiven gewendet hat. Das Thema Natur aber sei ein Coronagewinner, sagt Gerl. Die Zugriffe auf die Webseite seien signifikant gestiegen. Im vergangenen Jahr, vor dem ersten Lockdown, gab es etwa 30 000 pro Woche. Inzwischen zählt er wöchentlich bis zu 200 000 Interaktionen.

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SZ vom 03.04.2021/lfr
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