München:Stille Metamorphosen

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Die israelische Fotografin Pesi Girsch findet Schönheit, wo andere sich abwenden. In ihren Arbeiten, zu sehen bei Hasenclever, gibt sie toten Insekten oder Labormäusen einen würdevollen Abschied

Von Jutta Czeguhn

"Bitter Mix": Getötete Labormäuse finden sich in Pesi Girschs Stillleben in einem irritierenden Kontext. (Foto: oh)

Sanft umfängt Pesi Girsch den Kopf des alten Mannes, schmiegt lächelnd ihre Wange an seinen kahlen Greisen-Schädel, als würde sie ihn in den Totenschlaf wiegen. Jacob war ihr Nachbar, drei Tage nach der Aufnahme des Porträts ist er gestorben. "Immer freitags bin ich bei ihm vorbeigekommen, habe mit ihm Kerzen angezündet oder meine Enkel mitgebracht", erzählt die israelische Künstlerin. Die Fotografie, mit Selbstauslöser entstanden, ist verwaschen. In der Wohnung sei es sehr dunkel gewesen, erklärt das Pesi Girsch, die sich eigentlich in der Tradition der "Straight"-Fotografie sieht und auf Bildkomposition und absolute Schärfe Wert legt. Das Selbstporträt mit Jacob hat hingegen einen gemäldehaften Charakter, wenn das spärliche Licht von schräg oben einfällt und die Scheitel der beiden umspielt. Erst später hat Girsch erkannt, dass dieses technisch scheinbar unvollkommene Bild die Essenz ihrer Arbeit in sich trägt: den Gestus einer großen Zärtlichkeit, mit der sie im Kehrichthaufen des Lebens entschlossen nach Schönheit sucht.

Pesi Girsch mit Jacob, der kurz nach dieser Aufnahme starb. (Foto: oh)

Auch der Münchner Galerist Michael Hasenclever hatte dieses Gespür, als er "Myself with Jacob" 2008 erwarb. In dem Jahr war auch Pesi Girschs Serie "Kinderstube" in seiner Galerie im Hinterhof an der Baaderstraße zu sehen. Jetzt ist die Fotokünstlerin aus Tel Aviv, die den Kamera-Apparat eigentlich gar nicht besonders mag, mit einer Schau älterer und aktueller Arbeiten dorthin zurückgekehrt. Es ist eine Rückkehr in mehrfacher Hinsicht, denn Girsch wurde 1954 in München geboren und hat auch hier studiert. Der Titel der Ausstellung ist mit Bedacht gewählt: "Thoughtfully embedded - Behutsam eingebettet" werden da von der Künstlerin nicht nur "angekratzte" Menschen wie der Holocaust-Überlebende Jacob, auch Geschöpfe, die der Mensch für gewöhnlich achtlos zertritt oder von denen er sich mit Ekel abwendet, finden ihre zärtliche Aufmerksamkeit. Pesi Girsch selbst spricht von "Wiedergutmachung", "Entschuldigung", gar "Beisetzung".

Die Künstlerin, die auch an der Universität von Haifa lehrt, fotografiert gerne in verlassenen, spinnverwobenen Zimmern, in denen der Putz von den Wänden bröckelt, der Schimmel in den Ecken hockt und trotz einer bleiernen Windstille Staubflocken in der Luft flirren. Diese schäbigen, ortlosen Atmosphären sind für sie durchtränkt mit unerzählten Geschichten und Träumen - auch ihren eigenen. Girsch ist Tochter zweier Juden aus Litauen, die der Vernichtung in den KZs von Stutthof und Dachau entronnen waren. Ihre Eltern lernen sich in einem bayerischen Camp für Displaced Persons kennen, heiraten, bekommen fünf Kinder. Offen oder indirekt erfährt Pesi Girsch damals Antisemitismus: Ein Nachbarskind kann nur heimlich mit ihr spielen, im Prinzregentenbad will sie der Bademeister nicht schwimmen lassen, die Lehrerin in ihrer Bogenhauser Schule versteigt sich in Hitler-Elogen. Pesis Girschs Mutter Rosa, die heute 86 Jahre alt ist und bei ihr im Haus in Tel Aviv lebt, zieht es mit den Kindern 1968 nach Israel. Der Vater bleibt zurück in München, will sein Geschäft dort nicht aufgeben, erkrankt an Krebs und stirbt im Alter von nur 49 Jahren.

Als Kind, erzählt Girsch, habe sie oft Stunden nur für sich gemalt, die Eltern sollten nicht gestört werden, sich nicht sorgen. Heute, als Künstlerin, verbringt sie viel Zeit in jenen aufgegebenen Kammern. Sie arbeitet dort still vor sich hin, immer alleine, ohne Essen oder Musik. Wie in einer Klosterzelle sei das, sagt sie, es bringe sie zurück in die beengten Verhältnisse ihrer Münchner Kindheit, wo es keinen Fernseher gab, damit sie und ihre Geschwister nicht mit den Grausamkeiten der Welt in Berührung kämen. Zelle? Gefängnis? "Nein", sagt Girsch und sucht nach dem passenden deutschen Wort, "eher wie eine Gebärmutter". Sie sei am liebsten in Räumen, in ihrem Haus, dessen Wände sie aufgehört hat zu streichen. Fremde Orte, die machten ihr Angst, auch heute noch.

Pesi Girsch habe eine sehr ungewöhnliche Muse, den Tod, schrieb eine Kritikerin der Zeitung Haaretz über die Künstlerin, die in Israel sehr bekannt und vielfach ausgezeichnet ist. In der Galerie Hasenclever begegnet man einer Frau von ansteckender Energie, die viel mit den Händen spricht, sich durch die nicht mehr ganz schwarzen Haare fährt, die über ihre Kunst ganz uneitel redet. Sie lacht sehr oft, vor allem wenn sie erzählt, wie sie ihre eigenwilligen Arbeiten arrangiert, etwa einen Haufen High Heels ihrer "niedrigen" Mutter zu einem Kreis legt. Sie bezeichnet sich als "Spätkommler", erst 2011 habe sie sich die erste eigene Digitalkamera gekauft. Und prustet los, wenn man sie nach ihrem "Studio" fragt. Mit Wonne schildert sie dann, wie sie sich im Wohnzimmer mit Kuchenplatten, Schöpfsieben und Stehlampen technisch behilft. Photoshop, das sei in ihrer Arbeit ein Fremdwort.

"Mein Studio ist überall. Kunst und Leben kann ich nicht auseinander halten", sagt Pesi Girsch und erzählt von Rudi Lehmann, bei dem sie Bildhauerei studiert hat, einem Nichtjuden, der in den Dreißigerjahren nach Palästina emigriert war. Lehmann habe sie nicht nur Humor gelehrt, sondern auch Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit. Und den Mut, dorthin zu blicken, wo keiner hinschaut. Wieder sind wir bei Tod angekommen, bei Verfall, Verwesung. Girsch, sammelt, (be)hütet tote Geschöpfe. Denn den Tod, den habe sie als Kind ja doch zu Gesicht bekommen, in den Münchner Museen etwa in den Bildern von Caravaggio.

Kakerlaken werden bei der Künstlerin zu Königinnen. (Foto: oh)

"Mücken sind die einzigen Tiere, die ich töte", gesteht Girsch. "Bildnis eines Sommers" nennt sie eine Serie großformatiger Makro-Aufnahmen, auf denen sich ein Mücken-Geschwader zum Gesicht formiert. "Sie alle haben mich gestochen", kichert sie. In einer Cremedose mit 90-prozentigem Alkohol fanden die Mücken ihre letzte Ruhe, bis sie zum Corps de ballet in Pesi Girschs schwebend heiterer Kunst wurden. Soloauftritte in dieser morphologischen Gala bekommen auch glänzende Kakerlaken und Käfer, die hier nicht wie Kafkas Gregor Samsa auf dem Besen einer Bedienerin landen, sondern Bewunderung einfordern für ihre königinnenhafte, gepanzerte Schönheit. Auch tote Motten, kopflose Eidechsen, vertrocknete Fledermäuse, Katzen und Fische fallen Pesi Girsch zu und finden einen würdigen Platz in ihrem Fabel-Asyl.

Mücken formieren sich zum Corps de ballet. (Foto: oh)

Ironisch zitiert die Künstlerin die perverse Lust des Trophäenjägers, der seine Beute protzend an der Wand präsentiert, oder den Eifer des Insektenforschers, der sich an Schmetterlingen nur im aufgespießten Zustand erfreut. Provokant streift oder übertritt die Fotografin die Grenzen des Geschmacks, wenn sie die Kadaver von Labormäusen oder deren Embryos, die von der Wissenschaft entsorgt werden und als Futter in Zoohandlungen landen, in leeren Pralinenschachteln drapiert, als wären sie edles Konfekt oder schlafende Puppen. Für Pesi Girsch aber sind es Mausoleen, die sie diesen verschrumpelten, kleinen Tieren schafft. Ihre Würde, sagt sie, wolle sie diesen Geschöpfen zurückgeben. "Sie kommen mir vor wie Kinder, Opfer ihrer Eltern." Man muss noch lange nachdenken über diesen Satz.

Die Fotografie sei der Abschluss, die Verewigung, "ein Archiv meiner Gefühlswelt", sagt Pesi Girsch. Und wieder in Tel Aviv, lässt sie einen per Mail wissen, dass sie am letzten Abend in München die Enten im Englischen Garten gefilmt hat. Ihr Gequake und die Kirchenglocken, auch sie sind nun Teil des großen Lebensarchivs dieser unerschrockenen Sammlerin.

"Thoughtfully embedded - Behutsam eingebettet", Fotografien von Pesi Girsch, bis 30. Juni, Galerie Michael Hasenclever, Baaderstraße 56 c. Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag von 14 bis 18 Uhr, Samstag 11 bis 14 Uhr, und nach Vereinbarung unter Telefon 99 75 00 71.

© SZ vom 02.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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