Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Erfolgshungrig:Ein Bitter für den emanzipierten Geschmack

Christoph und Daniela von Pfeil haben den Vin d'Orange nach einem alten Familienrezept wieder zum Leben erweckt. Doch für mehr als 1000 Flaschen jährlich gibt es nicht genügend Früchte.

Von Franz Kotteder

"Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen": Christoph Graf von Pfeil hat die Devise aus Goethes "Faust" recht gründlich befolgt. Sieht man mal von dem kleinen Schönheitsfehler ab, dass das Erbe in diesem Fall von der Großmutter stammt und lediglich aus einem Stapel alter Papiere bestand. Den bekam Pfeil eines Tages von einem Cousin überreicht, der damit nichts anfangen konnte, weil viele der Texte in Französisch verfasst waren. Christoph von Pfeil aber war neugierig geworden, als er unter den Papieren das Rezept für einen Aperitif entdeckte: Vin d'Orange, zu Deutsch: Orangenwein.

Die Familie der Pfeils stammt eigentlich aus Niederschlesien, die Papiere hatten sich im Fluchtkoffer der Oma befunden, und auch sie hatte das Konvolut schon von ihren Ahnen geerbt. Pfeil forschte nach, was es mit dem seltsamen Getränk so auf sich hatte - und wurde auf diese Weise zusammen mit seiner Frau Daniela 2015 im Alter von 63 Jahren zum Gründer eines Startups. Da denkt man normalerweise ja eher daran, die Firma an die nächste Generation zu übergeben. Die Pfeils aber, beide studierte Kunsthistoriker, stürzten sich mit erkennbarer Freude in ein Abenteuer.

"Was wir da machen", sagt Daniela von Pfeil, "ist ein Aperitif für den emanzipierten Geschmack." Das ist fein ausgedrückt, denn Vin d'Orange bricht mit vielen Konventionen, die man mit einem "Vortrunk" - das ist die Übersetzung für Aperitif - heutzutage verbindet. "Meistens", sagt Christoph von Pfeil, "ist da sehr viel Zucker drin. Dabei sind es gerade die Bitterstoffe, die unter anderem wegen ihrer ätherischen Öle das folgende Essen bekömmlich machen. Der Vin d'Orange ist sozusagen unsere Antwort auf Campari und Aperol."

Schon die Araber brachten um das Jahr 1000 herum die ersten Zitrusfrüchte nach Europa, und die bitteren Pomeranzen, wie man die Sevilla-Orangen auch nannte, waren seit dem 17. Jahrhundert oft wichtige Bestandteile von Kochrezepten. Die Abschrift des Rezepts für den Vin d'Orange aber, die sich im Fluchtkoffer der Pfeils befand, geht zurück auf eine berühmte Enzyklopädie der Pariser Akademie der Wissenschaften und auf Jean Élie Bertrand (1713-1797), einen Pfarrer und Gelehrten, der für kurzzeitig Landwirtschaftsminister des polnischen Königs war. Er brachte die Bitterorangen wohl aus der Provence dorthin und an die adligen Höfe Schlesiens. "Eine Familie, die etwas auf sich hielt", sagt Pfeil, "hat damals eine eigene Orangerie angelegt. Das Klima in Niederschlesien ist viel milder als im oberschlesischen Kohlerevier, man kann dort Orangenbäume pflanzen."

Die Familie von Pfeil hielt zwar auch etwas auf sich, aber schon vor dem Ersten Weltkrieg war das Französische wieder aus der Mode gekommen: "Da war der doofe Kaiser Willi schuld, mit seinem Gerede vom Erzfeind." Nachfahr Christoph von Pfeil war es vorbehalten, in München-Sendling zusammen mit seiner Frau die Familientradition wieder aufleben zu lassen. Sehr aufwendig ist die Herstellung eigentlich nicht: Man braucht nur Roséwein, frische Bitterorangen, Zucker, Alkohol und Zimt. "Bitterorangen werden nur von Dezember bis Februar geerntet", sagt Pfeil, "sie sind also gar nicht so leicht zu bekommen. Aber ich habe da inzwischen meine Händler in der Großmarkthalle, die wissen, was wir haben wollen." Schwieriger war es schon, den bürokratischen Anforderungen zu entsprechen, die zum Beispiel in einem Alkoholgehalt von mindestens 15 Prozent und wechselnden Pflichtangaben auf dem Etikett bestanden.

Anfangs haben sie den Vin d'Orange noch in der häuslichen Küche angesetzt, 100 Flaschen waren das im Jahr 2015. Später dann, als die Nachfrage stieg, ging das nicht mehr. "Wir haben jetzt extra einen Keller angemietet", erzählt Daniela von Pfeil, "anders wäre das nicht machbar." Heute stellen sie um die 1000 Flaschen im Jahr her. Sehr viel mehr ist auch nicht drin, weil gar nicht so viele Bitterorangen auf den Markt kommen. "Wir sind der größte Hersteller in Deutschland", sagt Christoph von Pfeil und schmunzelt.

Es ist also nach wie vor ein Hobby, auch wenn die 0,35-Liter-Flasche für 28 Euro verkauft wird. Ganz am Anfang gab es den Vin d'Orange lustigerweise im Buchhandel: Die Buchhändlerin Regina Moths hatte bei einem Vortrag davon gehört, sie sagt: "Weil ich eine Schwäche habe für alles, was gut und besonders ist, habe ich ihn in mein Sortiment für den Laden in der Rumfordstraße aufgenommen." Dort gibt es die Flasche ebenso wie das kleine Buch von Daniela von Pfeil ("Orange", Mandelbaum Verlag, 60 Seiten), das 2020 sozusagen als Nebenprodukt entstanden ist. Inzwischen bekommt man den Aperitif - außer online unter www.vindorange.de - auch in 22 weiteren Läden und Restaurants in München, zum Beispiel im Broeding, im Gabelspiel, in der Bar Gabanyi und seit der Wiedereröffnung am Freitag, brandneu: auch im Tantris. In gewisser Weise ist das auch ein Ritterschlag in der kulinarischen Welt. Passt ja dann auch wieder zu den Ahnen der Grafen von Pfeil.

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Quelle:
SZ vom 04.10.2021/vewo
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