Süddeutsche Zeitung

Entwicklungshilfe:Wo wird Strom am dringendsten benötigt?

Lesezeit: 4 min

Eine Frage, die in Entwicklungsländern offenbar häufig nicht einfach zu beantworten ist. Das Münchner Start-up-Unternehmen Vida nutzt Satellitenbilder und künstliche Intelligenz, um Energie in entlegene Orte zu bringen.

Von Catherine Hoffmann

Einfach "weiter so" geht nicht, das ist Tobias Engelmeier klar. Die Weltgemeinschaft müsse umsteuern: hin zu einer wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung. Engelmeier will mit seinem Start-up Village Data Analytics (Vida) dabei helfen, dass die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die sich die UN-Mitgliedsstaaten 2015 gegeben haben, erreicht werden. Die Aufgaben sind gewaltig: Dazu zählen Beendigung von Hunger und Armut, Gesundheit, Klimaschutz, saubere Energie für alle, auch für die Entwicklungsländer. Bis 2030 soll nach dem Willen der UN die Welt eine bessere sein als heute. Doch die Umsetzung dieser ehrgeizigen Agenda kommt nur langsam voran, es müsste schneller gehen, meint Engelmeier: "Bei der Elektrifizierung zum Beispiel sind die Entwicklungsländer weit abgeschlagen."

Also reiste der junge Unternehmer vor ein paar Jahren mit seiner Familie durch die Dörfer Asiens und Afrikas; zwei seiner drei Kinder sind in Indien geboren. Ausgestattet mit Stift und Umfragebogen wollten er und seine Mitstreiter herausfinden, wie man entlegene Dörfer mit Strom versorgen kann. Mini-Grid heißen die unabhängigen lokalen Stromnetze, die den Menschen fernab der Großstädte einen bescheidenen Fortschritt bringen sollen. Meist werden sie mit Solarenergie betrieben. Doch die Arbeit war mühsam.

In Papua-Neuguinea zum Beispiel sollten zusammen mit der International Finance Corporation, einem Teil der Weltbank, 40 dezentrale Stromnetze entstehen. Die Recherche hat acht Monate gedauert und rund 250 000 Euro gekostet. Aber das Ergebnis war unbefriedigend. Zurück in München hatte Engelmeier einen dicken Packen Papier auf dem Tisch mit Informationen, die nicht präzise genug waren und sich oftmals nicht mehr den richtigen Orten zuordnen ließen. So würden die Stromnetze nicht dort gebaut, wo die Bevölkerung sie am dringendsten braucht. Es würde teurer als nötig. Und womöglich würden aus Versehen Betriebe, Schulen oder Krankenstationen nicht ans Stromnetz angeschlossen.

"Wir haben gemerkt: Dieser manuelle Prozess funktioniert nicht, und wir brauchen eine digitale Technologie, um schneller und besser planen zu können", sagt Engelmeier. "Es reicht ja nicht, nur 40 Netze zu bauen, um die Entwicklungsziele zu erreichen, es müssen Tausende werden in vielen Ländern."

Der Wendepunkt kam 2014 eher zufällig: Engelmeier war von seinen Reisen zurückgekehrt nach München. Die europäische Raumfahrtbehörde ESA suchte das Gespräch mit dem Start-up-Unternehmer. Sie hatte viele Milliarden Euro investiert, um im Rahmen des Copernicus-Projekts eine eigene Flotte von Erdbeobachtungs-Satelliten ins All zu befördern. "Die ESA suchte nach Anwendungsfeldern für ihre Daten - und wir hatten sie", erzählt Engelmeier. Die Raumfahrtbehörde stellte ihre Satellitendaten kostenlos zur Verfügung, während kommerzielle Anbieter wie Planet oder Maxar Technologies dafür viel Geld verlangt hätten. Plötzlich war eine kostengünstige Recherche zu unzähligen abgelegenen Dörfern möglich, ohne dass man sie bereisen musste.

"Wir haben uns dann mit Applied AI zusammengetan, einer Initiative von Unternehmer TUM, deren Aufgabe es ist, künstliche Intelligenz in der deutschen Wirtschaft zu verankern", sagt Engelmeier. So entstand die Geschäftsidee: Algorithmen aus dem Bereich des maschinellen Lernens sollten helfen, die Satellitenbilder zu analysieren, damit man sie nutzen konnte, zum Beispiel zur Planung von Mini-Grids. Village Data Analytics wurde gegründet. Das war vor drei Jahren. Seit Februar 2021 ist die Software auf dem Markt. "Seitdem hat sich unser Geschäft wahnsinnig entwickelt."

Unternehmen, NGOs oder Staaten nutzen die Informationen über Siedlungen auf der ganzen Welt, um herauszufinden, wie viele Menschen dort leben, ob sie schon an ein Stromnetz angeschlossen sind, wie hoch der Energiebedarf ist, wo Straßen liegen, ob es dort Konflikte gibt oder ruhig ist. All das lässt sich aus Satellitendaten herauslesen. "Das sind Informationen, die Entwicklungsländer oft nicht haben", sagt Engelmeier. "Investoren oder Planer wissen nicht, wo die Netze sind, sie wissen nicht, wo die Leute wohnen."

Man kann sich das vorstellen wie eine Google Map - nur mit Stromnetzen statt Restaurants

Pakistan zum Beispiel wollte wissen, wie es sein Stromnetz am besten plant. Sierra Leone will herausfinden, wo es Gesundheitszentren bauen könnte. Und in Mosambik stellt sich die Frage, wo man Schulen errichten soll. Zu den Kunden von Vida zählen neben Regierungen auch Organisationen wie die Weltbank, staatliche Banken wie die KfW, Unternehmen wie der Hersteller von Mini-Grids, Power-Gen, und viele mehr. Mittlerweile hat Vida 20 000 Dörfer in 22 Ländern analysiert. 1,5 Milliarden Dollar wurden mithilfe der Software bislang investiert.

Und der Datenschatz wächst weiter. Zu den Satellitenbildern kommen Daten von Kunden, etwa aus Sensoren oder intelligenten Messsystemen (Smart Meter), Ergebnisse aus Umfragen, Fotos, Drohnenbilder. Alle diese Informationen werden in die digitalen Karten gepackt, die der Kern von Vida sind. Man kann sich das vorstellen wie eine Google Map, nur dass man nicht unbedingt nach Restaurants und Tankstellen sucht, sondern nach Stromnetzen und Siedlungen. "Wir glauben, dass wir mit unserer Technologie den ganzen Entwicklungsprozess stark beschleunigen können", sagt Engelmeier. "Da ständig neue Satellitenaufnahmen zur Verfügung stehen, lassen sich damit auch die Fortschritte messen, die mit der Zeit gemacht werden." Das sei neu und ein großer Schritt in der Entwicklungspolitik.

Zugleich gebe es für Vida zahlreiche kommerzielle Anwendungsgebiete: Kaffeefirmen, die wissen wollen, welcher ihrer Kleinbauern im Kampf gegen den Klimawandel am dringendsten Hilfe von Agronomen braucht; Immobilienentwickler, die ihr Portfolio im Blick haben wollen; oder ein Ölkonzern, der in Afrika mehrere Tausend Tankstellen samt kleiner Läden betreibt und wissen will, welche Waren sich dort am besten verkaufen lassen.

Bislang finanziert sich Vida aus eigenen Umsätzen, Fördergeld der ESA und einem Co-Investment von Applied AI, die im Gegenzug an künftigen Gewinnen beteiligt werden. Jetzt steht das Vida-Team vor dem nächsten Schritt: "Wir wollen die beste Technologie bauen, um eine möglichst große Wirkung zu entfalten. Dafür brauchen wir auch kommerzielle Märkte", sagt Engelmeier. Er sieht viele neue Anwendungsfelder - von der Landwirtschaft über die Immobilienwirtschaft bis hin zu Kommunen in entwickelten Ländern. "Wir haben hier einen Vorsprung, den wir nutzen und weiter ausbauen wollen."

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