Stammstrecken-Jubiläum:Seit 50 Jahren auf großer Fahrt

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Zu den Olympischen Spielen 1972 wurden in Spitzenzeiten mehrere zehntausend Menschen pro Stunde zum Olympiagelände gebracht. (Foto: Claus-Jürgen Schulze)

Am 28. April 1972 rollten nach nur sechs Jahren Bauzeit die ersten S-Bahnen durch den neu eröffneten Stammstrecken-Tunnel. Die Nachfrage war von Anfang an enorm. Über eine Zeit, in der die Fahrt noch 70 Pfennig kostete.

Von Andreas Schubert

Mit der Münchner S-Bahn verhält es sich so: Man liebt sie oder man hasst sie - und echte Fans tun beides. Davon hat die S-Bahn eine Menge: 840 000 Fahrgäste nutzen sie nach Angaben der Deutschen Bahn (DB) täglich. An Spitzentagen waren es sogar schon bis zu 950 000. Die meisten von ihnen haben eine Dauerkarte, ob Steh- oder Sitzplatz hängt dann oft von der Tagesform der S-Bahn ab. Denn manchmal gerät sie schwer ins Keuchen oder fällt sogar ganz aus. Dokumentiert wird dies durch den DB-Streckenagenten im Internet oder in der Smartphone-App. In jüngster Zeit musste sich die Bahn von Politik und Fahrgastverbänden vermehrt den einen oder anderen Anpfiff anhören.

Und sie ist ja nicht mehr die Jüngste: An diesem Donnerstag feiert die S-Bahn schon ihren 50. Geburtstag. Am 28. April 1972 rollten die ersten Züge durch die frisch eröffnete Stammstrecke. Die ursprünglich Verbindungs- oder V-Bahn genannten Linie verband den Hauptbahnhof im Pendelverkehr mit dem Ostbahnhof. "Im S-Bahn-Tunnel steht das Signal auf Fahrt" titelte die Süddeutsche Zeitung damals. In der Arnulfstraße gab es neben dem Hauptbahnhof ein Standkonzert und Freibier. Die ersten drei Tage war die Fahrt durch den Tunnel dann gratis, danach kostete ein Ticket 70 Pfennig, für Kinder 50. Wie viele Menschen sich in den ersten Tagen durch den Tunnel fahren ließen, ist nicht dokumentiert.

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Doch der erste Monat war nur ein Probebetrieb. Die eigentliche Geburtsstunde der S-Bahn schlug erst am 28. Mai 1972, als die aus dem Umland kommenden Linien (bis auf die damalige S10, heute S7) durch den Tunnel fuhren und die Fahrgäste am Haupt- oder Ostbahnhof nicht mehr umsteigen mussten. An diesem Tag startete auch das Geschäft des ein Jahr zuvor gegründeten Münchner Verkehrs- und Tarifverbunds (MVV). Endlich galten für U-Bahnen, Tram und Busse ein einheitlicher Verbundfahrplan und ein Tarifsystem.

Mit der S-Bahn wurde ein neues System geschaffen, dessen Idee allerdings schon um einiges älter war. Bereits im 19. Jahrhundert fuhren die Münchner und die Bewohner des Umlands gerne mit den Vorortbahnen, sei es zur Arbeit oder für einen Ausflug zum Starnberger See oder ins Isartal. Die Stadt wuchs, und damit gingen auch die Fahrgastzahlen der Vorortbahnen stetig nach oben.

Der erste Tunnel wurde als Luftschutzbunker genutzt

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es schon Überlegungen, die Vorortbahnen mit einem Tunnel zwischen Hauptbahnhof und Ostbahnhof zu verbinden. Ebenso gab es Pläne für eine unterirdische Nord-Süd-Verbindung. Für Letztere starteten 1938 in der Lindwurmstraße sogar die Bauarbeiten. 1941 wurde der Bau wegen des Zweiten Weltkrieges allerdings wieder eingestellt. Nachdem er unter anderem als Luftschutzbunker und für die Champignonzucht genutzt wurde, verlaufen heute in diesem Tunnelabschnitt die U-Bahn-Linien U3 und U6.

Die Geschichte der S- und der U-Bahn ist eng miteinander verzahnt, nicht nur, weil am Marienplatz gleichzeitig Stationen entstanden, sondern auch, weil die Stadt selbst über eine U-Bahn-Trasse von West nach Ost nachdachte. 1963 einigte sich die Stadt dann mit der Bundesbahn, überließ ihr diese Trasse für die S-Bahn-Stammstrecke und beendete so die damals als "Trassenstreit" bekannte Diskussion. Als München dann am 25. April 1966 den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 1972 bekam, musste der Bau beider Verkehrssysteme schnell gehen. Nur 50 Tage nach der Vergabe fiel am 15. Juni 1966 der offizielle Startschuss für den Bau der Stammstrecke, der nicht einmal sechs Jahre dauerte.

Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel gibt 1972 mit erhobener Kelle den Start für die erste Münchner S-Bahn-Fahrt frei. (Foto: SZ-Photo/West-Foto/Horst J. Buch)

In der Region war die Nachfrage vom ersten Tag an enorm. Schon im ersten Jahr übertraf die Zahl der täglichen Passagiere mit über 430 000 die Prognose von 240 000 Fahrgästen deutlich. Allein zu den Olympischen Spielen wurden in Spitzenzeiten mehrere zehntausend Menschen pro Stunde zum Olympiagelände gebracht. Die Strecke und der Olympia-Bahnhof wurden danach nur noch sporadisch zu besonderen Anlässen genutzt. In den Achtzigern fuhr die S-Bahn den Bahnhof dann wieder regelmäßig bei Fußballspielen im Olympiastadion an. Nach dem Finale der Fußball-Europameisterschaft in München wurde der Bahnhof 1988 allerdings stillgelegt. Seither gammelt er vor sich hin, die Stadt, die das Gelände von der Bahn gekauft hat, will dort eine Erholungsfläche schaffen und die alte Bahntrasse ins Radwegenetz einbinden.

Zum Start der S-Bahn 1972 gingen 101 von 120 bestellten Zügen in Betrieb. Die Fahrzeuge vom Typ ET 420 waren für die Stammstrecke maßgeschneidert, andere Züge passten nicht durch den Tunnel. 140 Züge, so befand der MVV schon damals, hätte es mindestens gebraucht. Doch zunächst blieb die Lieferung weiterer Züge aus. Nikolaus L. Meyer, einer von damals noch zwei MVV-Geschäftsführern, ätzte in Richtung Bundesbahn: "Da werden hier Milliarden in die Erde gebuddelt und dann wird das geschaffene System nicht voll ausgenutzt." Ganz so teuer war die erste Stammstrecke zwar auch wieder nicht, aber fast: 906 Millionen Mark mussten Bund, Freistaat und die Stadt München zusammenkratzen, doppelt so viel wie ursprünglich geplant.

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Anfangs war die Münchner S-Bahn noch weiß-blau lackiert, die Mehrheit der Fahrgäste hatte sich bei einer Umfrage dafür ausgesprochen. Erst 1984 wurden sie bundesweit einheitlich weiß-orange angemalt. Zunächst gab es auch eine erste Klasse, die Zuschlagszahlung allerdings wurde auf Betreiben des MVV noch im Dezember 1972 dauerhaft ausgesetzt, obwohl die DB sie gerne beibehalten hätte, wie auch heute noch in der S-Bahn Stuttgart. Doch während es in der zweiten Klasse eng wurde, blieben in der ersten oft Sitze leer. MVV-Chef Meyer war von Beginn an ein strikter Gegner der Klassentrennung: "Keine Reservate, solange noch Gedränge herrscht", betonte er.

Am Anfang fuhren die meisten Züge nur alle 40 Minuten

360 Kilometer war das S-Bahn-Netz ursprünglich lang und bediente 136 Stationen. Nach und nach wuchs es, seit dem 17. Mai 1992 fährt die S-Bahn auch den Flughafen im Erdinger Moos an. Der Bau der Flughafen-S-Bahn dauerte sieben Jahre und verschlang 630 Millionen Mark. Er war die größte Erweiterung des Netzes, das heute 444 Kilometer mit 150 Stationen umfasst. Die bislang letzte war die Station Freiham, die 2013 eröffnet wurde.

Am Anfang fuhren die meisten Züge nur alle 40 Minuten. Nach und nach kamen immer mehr Streckenabschnitte hinzu, die im 20-Minuten-Takt bedient wurden. Mit Anwachsen der Flotte wurden außerdem weitere Linienabschnitte und Verstärkerfahrten auf moderne S-Bahnen umgestellt und Takte verdichtet. Als "wichtigen Meilenstein" bezeichnet die DB die Einführung des Zehn-Minuten-Taktes auf drei Linien zur Hauptverkehrszeit. Nach umfangreichen Bauarbeiten startete im Dezember 2004 auf den Linien S3 und S5 der Takt 10, die S2 folgte 2005. Die Einführung bedeutete mit neuen Abfertigungsverfahren, geänderten Taktzeiten und neuen Liniennummern die größte Umstellung seit Bestehen der S-Bahn. Heute umrundet die S-Bahn mit rund 1100 Fahrten täglich eineinhalbmal die Erde und legt jährlich fast 21 Millionen Kilometer zurück.

Waren anfangs noch Kurzzüge die Regel, fuhren mit der Zeit immer mehr S-Bahnen mit zwei oder gar drei Zugteilen. Um das zu ermöglichen, brauchte es auch immer mehr Fahrzeuge. 1974 fuhren 139 Züge, 1980 schon 160 und 1984 dann 191. 1998 präsentierte die DB eine völlig neue Fahrzeuggeneration. Die Baureihe ET 423 setzte knapp 30 Jahre nach dem ET 420 wieder Maßstäbe. Die neuen, nun rot lackierten S-Bahnen waren erstmals komplett durchgängig und boten somit Platz für bis zu 20 Prozent mehr Fahrgäste. Erstmals gab es in den Zügen auch eine Anzeige für die nächste Haltestelle und automatische Ansagen. Zwischen 2000 und 2005 gingen über 200 neue Züge in den Einsatz.

Heute umfasst die Flotte 238 Züge vom Typ ET 423. Weil der auch in die Jahre gekommen war, hat die Bahn diese Wagen nach und nach modernisieren lassen, unter anderem mit neuer Beleuchtung, mehr Stehplätzen, neuen Info-Bildschirmen und Wlan in den Zügen. Zusätzlich wird die Flotte noch von reaktivierten gebrauchten Zügen verstärkt, sodass rund 270 Fahrzeuge im Einsatz sind.

Wenn Ende der 2020er Jahre die zweite S-Bahn-Stammstrecke in Betrieb geht, soll wieder eine ganz neue Zuggeneration angeschafft werden, die noch mehr Platz bietet. Die zweite Stammstrecke, die mit vielen Jahren Verspätung kommt, soll dann das System entlasten, das heute das meistbefahrene in ganz Europa ist. Bis dahin gilt es, die Zuverlässigkeit einzelner Komponenten zu verbessern. So werden im Netz die Weichen und Signale häufiger gewartet, bevor sie ausfallen. Die größte Verbesserung dürfte allerdings das neue elektronische Stellwerk am Ostbahnhof bringen. Das soll nächstes Jahr in Betrieb gehen und das anfällige, ebenfalls ein halbes Jahrhundert alte Relaisstellwerk ersetzen. Dann dürfte sich das zeitweise unterkühlte Verhältnis der Fahrgäste zur S-Bahn auch wieder ein bisschen erwärmen.

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