Süddeutsche Zeitung

SPD-Fraktionschef Reissl wechselt zur CSU:Verschobenes Koordinatensystem

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Von Heiner Effern

Münchens CSU hatte höchste Geheimhaltung ausgerufen, schließlich wollte man mit diesem Schachzug alle überraschen. Und die Strategie ging auf: SPD-Fraktionschef Alexander Reissl hat am Montag die Farben gewechselt und gehört nun der CSU-Fraktion an. Eine spektakuläre Rochade, die in der Stadt beispiellos sein dürfte. Um sie bekanntzugeben, hatten CSU-Bezirkschef Ludwig Spaenle, Bürgermeister Manuel Pretzl und OB-Kandidatin Kristina Frank kurzfristig ins Wirtshaus Zum Spöckmeier eingeladen. Dort, zwischen Pretzl und Frank, saß Reissl und bestätigte am Vormittag das für nahezu jeden Sozialdemokraten in München Unvorstellbare.

Eine Summe von Gründen habe ihn zu diesem "nicht kleinen und leichten Schritt bewogen", sagte Reissl. Notiert hatte er seine Motive auf zwei DIN-A 4-Seiten, doch Reissl wäre nicht der anerkannt gute Redner, wenn er sich sklavisch daran gehalten hätte. Nach außen hin zumeist erstaunlich abgeklärt und ruhig trug er vor, was ihn alles so sehr an "seiner" SPD nervte, dass er ihr nach mehr als 45 Jahren so brutal den Rücken kehrt. Wie hätte er sie schlimmer strafen können als mit einem Abgang Richtung CSU?

Zuerst nannte er den Zustand der Bundes-SPD, die profillos und selbstverschuldet ihrem Niedergang entgegen taumele. Doch auch seine eigene Fraktion in der Stadt habe sich inhaltlich von seinen Positionen vielfach weit entfernt, ja entfremdet. Sie habe etwa in der Verkehrs- und der Wohnungspolitik Entscheidungen getroffen, die "ich für falsch halte", sagte Reissl. Als Beispiele nannte er den "populistischen" Beschluss, den Mietern der städtischen Wohnungsgesellschaften fünf Jahre jede Erhöhung zu erlassen. Und vor allem meinte er damit die Verkehrswende, bei der er die SPD mit ihren Radwegen auf Abwegen sieht. Nur fünf Prozent des Verkehrs werde mit dem Rad zurückgelegt, sagte Reissl. Wer mit dem Auto fahren müsse, so sein Frust, habe in der SPD keine Fürsprecher mehr. Viele Berufstätige würden dadurch vergrault.

Am Ende kommt er zu dem Punkt, der ihn mindestens so schmerzen dürfte wie die anderen beiden zusammen. Er habe sich der "Art des Umgangs der letzten Wochen und Monate nicht mehr aussetzen wollen", sagte Reissl in Richtung seiner früheren Fraktion. Es gehe um Dinge, "die durchgestochen wurden, von hinten her passieren". Der 61 Jahre alte Sparkassen-Angestellte hatte als Fraktionschef zunehmend an Macht und Einfluss verloren, was ihn seine Fraktion spüren ließ. Es galt als sicher, dass er 2020 nach der Kommunalwahl sein Amt verlieren würde. Er hätte zwar wohl einen sicheren Listenplatz bei der SPD erhalten, aber keinen der ganz vorderen. "Ich will mir vor allem auch nicht von Menschen derselben Generation erklären lassen, dass ich derjenige bin, der der Verjüngung weichen solle", sagte er. Auf Platz eins und zwei der Liste werden Oberbürgermeister Dieter Reiter und Bürgermeisterin Christine Strobl erwartet. Sie gehören der Generation Reissl an.

Die beiden wurden wie die gesamte Partei von dem Schritt völlig überrascht. Dabei hatte die CSU dem Fraktionschef des Regierungspartners schon vor Wochen zu dessen Überraschung ein Angebot unterbreitet. Er habe das gleich "mit Interesse" aufgenommen, sagte Reissl. Obwohl er natürlich weiß, dass Freundschaften in der SPD daran kaputt gehen könnten. In den vergangenen Tagen legte Reissl eine schauspielerische Leistung hin, die das befördern könnte. Am Freitagabend habe er sich im Münchner Norden noch bei einer SPD-Veranstaltung, in der sich die Stadtratskandidaten für einen Listenplatz bewarben, mit einer engagierten Rede vorgestellt, erklärten Teilnehmer.

In einer ersten Reaktion würdigte die SPD Reissl jedoch nur als "erfahrenen und profunden Kommunalpolitiker", dem sie viel zu verdanken habe. Oberbürgermeister Dieter Reiter sagte, er bedauere die Entscheidung ausdrücklich. Allen Stellungnahmen war der Wille anzumerken, nicht nachzutreten oder gar einen Rosenkrieg zu entfachen. Aber ein paar kleine Spitzen waren schon zu spüren. Der Fraktionschef habe den "Weg der Erneuerung zu einer modernen Münchner Großstadtpartei nicht mitgehen" wollen, hieß es in der offiziellen Stellungnahme.

Reissl war mit der SPD fast sein gesamtes Leben lang eng verbunden. Mit 20 Jahren zog er für sie in den Bezirksausschuss Moosach ein, seit 1996 sitzt er im Stadtrat. 2008 übernahm er den Vorsitz der Fraktion. Im Jahr 2013 wollte er für die SPD als Oberbürgermeister-Kandidat antreten, verlor aber das parteiinterne Rennen gegen Reiter. Nun ist Reissl ausgetreten, "der Brief ist unterwegs". Mitglied der Christsozialen will er zumindest im Moment nicht werden. Er wird der CSU-Fraktion als Parteiloser angehören.

Die CSU habe ihn am Nachmittag einstimmig und danach mit tosendem Applaus aufgenommen, war zu hören. Die Partei bekomme "einen der profiliertesten und kenntnisreichsten Kommunalpolitiker" der Stadt, sagte Bürgermeister Pretzl. Der SPD warf er vor, München mit einer "Ideologisierung" der Stadtpolitik zu spalten. Das Koordinatensystem im Rathaus habe sich in jüngster Zeit "dramatisch verschoben". Dem wolle die CSU eine Politik der Mitte und des Ausgleichs entgegensetzen. Dafür stehe auch Alexander Reissl als Persönlichkeit. Doch auch die CSU sah, was der Wechsel für ihn bedeutet. "Alexander Reissl ist länger in der SPD gewesen als ich alt bin", sagte OB-Kandidatin Frank, halb respektvoll, halb staunend.

CSU-Bezirkschef Spaenle versprach ihm dafür einen guten Platz auf der Stadtratsliste, und auch er keilte gegen die SPD. Diese "implodiere" in München als Volkspartei. "Nicht Alexander Reissl hat sich verändert, sondern die SPD", sagte er. Ungeachtet dessen beteuerten SPD und CSU, ihr Regierungsbündnis bis zur Kommunalwahl fortsetzen wollen.

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