LGBTI-Geschichte:Münchens queere Seite

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Der Christopher Street Day ist ein fixer Termin in der Stadt. (Foto: Robert Haas)

Von schillernden Bars und schwulen Traditionalisten bis hin zu Freddy Mercurys Geburtstagsfeier: Die gleichgeschlechtliche Liebe ist Teil des Münchner Lebens. Eine neue Sammlung soll das nun dokumentieren.

Von Ricarda Richter

Als der Wirt der Bräurosl damals, vor über 30 Jahren, die Anfrage bekam, sechs Tische für den Münchner Löwenclub zu reservieren, sagte er sofort zu. Er stand den Sechzgern nahe und empfand es als Ehre, die Fans des Fußballvereins bei sich im Zelt begrüßen zu dürfen. Als die Gäste am verabredeten Tag kamen, war das Erstaunen jedoch groß: Denn die "Löwen" waren keine 1860-Anhänger, es waren schwule Männer, allesamt Mitglieder eines der ältesten Leder- und Fetischclubs in Europa.

Drei Jahrzehnte später ist der "Gay Sunday" am ersten Wiesn-Sonntag längst zum Ritual geworden. Tausende Homosexuelle aus aller Welt reisen an, um in der Bräurosl zu feiern, und werden dort vom Oberbürgermeister begrüßt. Außerdem findet am zweiten Oktoberfest-Montag die Prosecco-Wiesn in der Fischer-Vroni statt.

Vergangen, nicht vergessen

Viele Jahre lang war der Schwulenclub "Bau" in der Müllerstraße eine Institution, sein Darkroom szeneweit bekannt. Das Schild stammt aus dem Jahr 2005 und war im Inneren der Bar angebracht. Mit der Renovierung 2015 wurden die bis dahin abgeklebten Fenster vom Sichtschutz befreit, nun durften an bestimmten Tagen auch Frauen und heterosexuelle Männern hinein. Zwei Jahre später schloss der Bau - eine von vielen Szenebars, die nach und nach aus dem Stadtbild verschwanden.

Schwule Plattler

Nur ein Buchstabe ist anders. Er macht aus dem berühmten Traditionstanz Schuhplattler den Namen eines Vereins, der nicht nur für Heimatverbundenheit und die Bewahrung traditioneller Werte steht - sondern auch für Homosexualität. Im Jahr 1997 wurden die Schwuhplattler als erste schwule Schuhplattlergruppe der Welt gegründet, zu ihrem 15-jährigen Jubiläum brachten sie diese Chronik heraus. Inzwischen treten die Herren nicht mehr nur beim Christopher Street Day auf, sondern werden auch für Stadtteilfeste, Kulturevents, Hochzeiten oder Geburtstage gebucht. 2019 gewann die Gruppe den Paulaner-Salvator Preis, der Ideen und Projekte auszeichnet, die Tradition neu denken und dadurch wiederbeleben.

Fragerunde mit Klischee-Lesben

Vorurteile und dumme Stereotype - damit haben Homosexuelle oft zu kämpfen. In den Neunzigerjahren entschloss sich eine Gruppe von Frauen aus der Münchner Lesben-Szene, mit den Klischees zu spielen und sich selbst auf die Schippe zu nehmen: Sie erfanden das "Lesbische Identitätsspiel". Durch würfeln kann man eine kleine Figur auf einem Spielbrett vorrücken. Auf jedem Feld muss dann eine Karte mit einer Frage gezogen werden. Die unterschiedlichen Farben der Felder stehen jeweils für ein Klischee: zum Beispiel für die "Partylesbe", die immer nur feiert und der die politische Dimension ihrer sexuellen Orientierung herzlich egal ist. Oder die "Politlesbe", die sich stark engagiert, aber völlig humorbefreit ist. Die Antwort auf die Frage darf nicht frei gewählt werden, sondern steht auf einer zweiten Karte, die man ebenfalls ziehen muss. Die Aufgabe der Spielerin ist dann, Frage und Antwort argumentativ unter einen Hut zu bringen: Warum würde die jeweilige Klischee-Lesbe so auf diese Frage reagieren? Gespielt und verkauft wurde das Spiel in der "Nümfe", einem ehemaligen Frauentreff an der Nymphenburger Straße, der nach einem Vermieterwechsel im Jahr 1995 schließen musste.

Christinas Rätsel

Nicht zu jedem Objekt der Sammlung ist die Hintergrundgeschichte bekannt. Bei diesem Plakat mit der Aufschrift "Christina Portrait Zarah Leander" ist weder eindeutig klar, aus welchem Jahr es stammt, noch welche Veranstaltung sich dahinter verbirgt. Pia Singer, die für die Sammlung von Münchens LGBTI-Geschichte verantwortlich ist, geht davon aus, dass es sich auf dem Foto um die nach wie vor lebende Künstlerin Cristina aus Amsterdam handelt - auch wenn diese ohne "h" geschrieben wird. Sie hatte persönliche Beziehungen zu der schwedischen Schauspielerin und Sängerin Leander und ist bekannt dafür, sie in ihren Auftritten zu imitieren...

Christinas Rätsel

...Die Kleine Freiheit war ein Kabarett und Theater, das die jüdische Kabarettistin und Regisseurin Trude Kolman 1951 nach ihrer Rückkehr aus dem Exil gründete und das bis 1996 bestand. Es richtete sich nicht speziell an ein schwules Publikum, bot aber auch Travestiekünstlern eine Bühne. Die klassischen Schwulenbars und die lesbischen Kneipen der Isarvorstadt sterben mehr und mehr aus. Als Gründe werden oft steigende Mieten und sinkende Einnahmen genannt. Doch auch das Ausgehverhalten hat sich in Zeiten von Internet-Dating und Flirt-Apps verändert: Homosexuelle brauchen heute keine eigenen Bars mehr, um neue Bekanntschaften zu schließen.

Freddie Mercury lädt ein

Der vielleicht berühmteste Homosexuelle der Stadtgeschichte ist: Freddie Mercury. Im Old Mrs. Henderson, einem Travestie-Club, feierte der legendäre Queen-Sänger 1985 seinen 39. Geburtstag. Das schwarz-weiße Karomuster der Einladungskarte entsprach dem Stoffbezug der Bänke des Clubs. Zu sehen sind sie noch heute im Musikvideo von "Living on my own", das Mercury im Old Mrs. Henderson drehte. Inzwischen befindet sich an gleicher Stelle die Paradiso Tanzbar.

Zweisam statt einsam

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(Foto: Robert Haas)

Statt des einsamen Ampelmännchens leuchten an manchen Münchner Kreuzungen sowohl homosexuelle als auch heterosexuelle Paare rot, gelb und grün. Händchenhaltend oder eng umschlungen symbolisieren sie die Vielfalt der Liebe. Früher wurden die Schablonen für die Ampelleuchten nur anlässlich des Christopher Street Days verwendet und anschließend wieder abmontiert. Nach einem Beschluss des Stadtrats dürfen sie nun das ganze Jahr über hängen bleiben.

Als das Stadtmuseum eine Ausstellung zum 200-jährigen Jubiläum der Wiesn plante, wollten sich die Kuratoren auch mit der schwulen Seite des Oktoberfests auseinandersetzen. Ursula Eymold, Leiterin der Sammlung Stadtkultur, nahm 2009 Kontakt zum Münchner Löwenclub auf und bekam von den Mitgliedern die ersten Ausstellungstücke: historische Plakate, aber auch besondere Lederhosen und andere Kleidungsstücke. "Es war das erste Mal, dass wir festgestellt haben, wie eng die LGBTI-Geschichte mit Themen verbunden ist, von denen man es gar nicht erwarten würde", sagt sie heute.

Das Museum entschied sich, Münchens LGBTI-Geschichte - die Abkürzung steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transexuell/Transgender und Intersexual - zu einem Sammlungsschwerpunkt zu machen und aktiv nach Zeugnissen Ausschau zu halten. Von nun an musste sich das Team nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart auseinandersetzen. Dabei lässt sich im Nachhinein deutlich einfacher sagen, welche Entwicklungen eine Stadt geprägt haben. "Das zeigt sich schon daran, was einem im Gedächtnis geblieben ist, was als Konsistenz eines Ereignisses oder Themas übrig bleibt", sagt Frauke von der Haar, die das Stadtmuseum seit Januar leitet. "Gegenwartsbezogenes Sammeln erfordert den Mut, die Frage zu stellen: Wie wichtig ist diese Geschichte für München? Und woran mache ich das fest?"

Eine Institution, die sich dieser Aufgabe schon seit mehr als 20 Jahren verschrieben hat, ist das Forum Queeres Archiv München. Ziel des Vereins ist es, die Geschichte von Lesben und Schwulen anhand von Unterlagen und Erinnerungsstücken aus Alltag und Kultur zu dokumentieren. Regelmäßig bietet das Forum Rundgänge durch das eigene Archiv oder "queere" Stadtführungen an. Im Gegensatz zum Stadtmuseum ist es in der homosexuellen Szene etabliert und gut vernetzt. Dem Verein fehlen jedoch die Räumlichkeiten, um große Objekte fachgerecht zu lagern und restaurieren zu können.

Anfang 2019 entschieden sich das Stadtmuseum, das Forum und das Stadtarchiv deshalb zu einer Kooperation. Gemeinsam starteten sie einen Sammlungsaufruf: "Helfen Sie uns dabei, die Geschichte der Münchner Lesben-, Schwulen-, Bi-, Trans*- und Inter*-Communitys sichtbar zu machen und als Teil der Münchner Stadtgeschichte und Erinnerungskultur zu bewahren!", heißt es darin. Das Archiv nimmt vor allem Fotos, Dokumente und Unterlagen entgegen, das Museum Gegenstände mit besonderer Geschichte, das Forum Protestbanner oder Flyer.

"Durch die Zusammenarbeit haben sich neue Türen geöffnet", sagt Eymold. Große Banner von Various Voices, einem schwul-lesbischen Chorfestival, hat das Museum vom Forum übernommen. "Wir versuchen, das gegenseitige Verständnis zu fördern", erklärt Eymold. "Zuletzt haben wir in unser Depot eingeladen, um den Unterschied zwischen guter und professioneller Lagerung zu zeigen. Es reicht für einen langfristigen Erhalt eben nicht aus, einen trockenen Keller zu haben." Ein klassisches Beispiel sei eine Latex-Uniform, die nach einiger Zeit zwischen den Fingern zerbrösele. Eine bestimmte Atmosphäre bei der Lagerung könne gewährleisten, dass sie auch in 100 Jahren noch existiere.

Manchmal, so wie beim Löwenclub auf der Wiesn, braucht es eine Weile, bis man den Zusammenhang zwischen der LGBTI-Geschichte und der Entwicklung der Stadt bemerkt. Manchmal ist der Zusammenhang aber auch offensichtlich. So wie bei der Münchner Aids-Hilfe, sie war die erste regionale Selbsthilfegruppe ihrer Art in Deutschland. Und auch bei der Rosa Liste: 1996 zog sie als erste schwul-lesbische Wählerinitiative Europas in ein Kommunalparlament ein und ist dort bis heute vertreten. "Und natürlich war das Glockenbachviertel schon immer ein Zentrum der Schwulenbewegung, in dem starke Begegnungen stattgefunden haben", sagt Eymold.

Doch welche Art von Objekten erzählt nun schwule, lesbische und trans-Geschichte? Und wie lassen sie sich sammeln? Mit diesen Fragen ist Pia Singer konfrontiert, die das LGBTI-Projekt inzwischen verantwortet. "Wir haben einen roten Sessel aus dem legendären Club Morizz bekommen, der 2012 schließen musste. Die Sessel waren ikonisch, ein Symbol für die Szene in München", sagt Singer. Andere Objekte aber seien nichts weiter als Alltagsgegenstände, die nur durch die mit ihnen verbundene Geschichten relevant würden. Sie zu erzählen, ist die Aufgabe ihrer Besitzer. Mit jedem, der etwas an die Sammlung abgeben möchte, führt Singer ein intensives Gespräch. Auch, um Vertrauen aufzubauen - denn eine Übergabe an das Archiv bedeutete gleichzeitig einen Abschied.

Die erste Frage sei in der Regel, wann das Objekt im Museum zu sehen sein werde. Doch gesammelt wird nicht für einen konkreten Anlass. Stattdessen soll LGBTI-Geschichte zukünftig in allen Bereichen mitgedacht und mitberücksichtigt werden: in jeder Ausstellung, bei jeder Veranstaltung, an jedem Gedenktag. "Nicht als eigenes Thema, sondern als selbstverständlicher Bestandteil dieser Stadt", sagt Singer. Wann genau ein Gegenstand wieder aus dem Archiv geholt wird, kann sie deshalb nicht versprechen.

Um die 100 Objekte seien inzwischen zusammengekommen. "Wenn ich mit den Leuten spreche, merke ich, wie froh sie sind, dass ihre Geschichte anerkannt und sichtbar gemacht wird", sagt Singer. Der Sammlungsaufruf solle die Menschen dazu ermutigen, zu sagen, was für sie Bedeutung habe. Das könne eine Tasse genauso gut sein wie ein Kleidungsstück, das man zum ersten Date trug. Nicht das Museum schreibe die Geschichte, das täten die Münchnerinnen und Münchner selbst.

© SZ vom 25.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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