Es war eine harmonische Beziehung, viele Jahrzehnte lang. Zeitweise hat es sogar nach der großen Liebe ausgesehen. Nun steht die eine Seite fassungslos da und kann nicht verstehen, dass die Wege so sehr auseinander gehen. Sie ist wie immer, sie hat sich nicht geändert, all ihre Reize hat sie behalten. Findet sie zumindest selbst. Lange war sie gekränkt und beleidigt, fragte nach dem Warum und fand nur Antworten, die nichts änderten. Jetzt will sie es noch mal versuchen, bevor es vielleicht endgültig vorbei ist. Wird es noch einmal was mit der SPD und ihren Münchnerinnen und Münchnern? Oder haben die längst eine andere?
"Wir, Fraktion und Partei, stehen in den kommenden Jahren vor der Existenzfrage. Die Sozialdemokratie muss aus der Vergangenheit raus und den Weg in die Zukunft finden", schrieb Anne Hübner, Fraktionschefin der SPD im Rathaus, kürzlich in einer Selbstreflexion, die sie immer wieder mal auf ihrer Homepage betreibt. Und sie äußert einen für eine Partei alarmierenden Gedanken: "Was noch fehlt, ist irgendwie die leitende Idee...". Die Frage sei, "wie eine bei 15 Prozent im Bund verharrende Volkspartei ihre Wählerinnen und Wähler von früher zurückgewinnen kann. Oder gar neue für sich begeistern kann."

Will man einen Einblick ins Seelenleben der SPD werfen, ist Anne Hübner keine schlechte Wahl. Seit dem Frühjahr führt sie die Fraktion, und für eine Spitzenpolitikerin der Stadt hat sie sich eine radikale Ehrlichkeit bewahrt. Ihre Gedanken teilt sie ungefiltert über die sozialen Medien mit. Das finden die einen naiv, angreifbar und mit Details versehen, die sie nicht wirklich wissen wollen oder müssen. Andere mögen es, weil es authentisch und offen wirkt. Anne Hübner sagt, dass es Teil der Strategie sei, die SPD zu verändern.
"Wir haben etwas gemacht, und dann sollten es die Leute auch gut finden."

Dass das nötig ist, findet auch ihr Kollege an der Fraktionsspitze, Christian Müller. Die beiden sitzen am Aschermittwoch in einem Raum der Fraktion, um ihre Gedanken zur Zukunft der Sozialdemokratie in München zu erklären. Zum Kaffee gibt es Mandarinen- und Himbeerschokokuchen. Eine Kompensation an Süßem zu ihrer bitteren Bestandsaufnahme. Die SPD habe in den vergangenen Jahren zu zurückhaltend agiert, sagt Müller, zu wenig "Biss, Standfestigkeit und Durchsetzungsfähigkeit" bewiesen. Sie sei in manchen Dingen zu wenig selbstbewusst gewesen, auf der anderen Seite aber oft "rechthaberisch", "satt" und "muffig" aufgetreten: "Wir haben etwas gemacht, und dann sollten es die Leute auch gut finden."
Hier wollen sie ansetzen, bei einem Wechsel von Stil und Attitüde, aber Hoffnung auf sehr schnelle Erfolge machen die beiden nicht. "Natürlich kann man das Bild einer Partei nicht über Nacht ändern, das über viele Jahre aufgebaut worden ist", sagt Müller. Mit den vielen neuen Köpfen in der Fraktion aber kann das funktionieren, sind die beiden überzeugt. Sobald es die Pandemie-Lage erlaubt, wollen sie sich den Münchnern präsentieren. "Alle zwei Wochen werden wir rausgehen in die Stadtviertel. Bis zur nächsten Kommunalwahl wollen wir sechs bis sieben Mal in jedem gewesen sein", sagt Anne Hübner.

Das wird auch Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) gerne hören, der sich an den selbstzentrierten Hinterzimmerrunden seiner Partei stört. Dass in der Fraktion nach der letzten Kommunalwahl viele alten Strukturen aufgebrochen sind, liegt auch an ihm. Julia Schmitt-Thiel (Umwelt) und vor allem die Verkehrsexperten Andreas Schuster und Nikolaus Gradl hat er, am üblichen Hochdienen in der Partei vorbei, durch sein Votum auf der SPD-Liste so weit nach vorne setzen lassen, dass sie nun im Stadtrat sitzen. Sie kämpfen für eine sehr sozial-ökologische Politik, fast mehr als dem nicht ganz so ökologischen OB Reiter recht ist. Die Wiederkehr der Pop-up-Radwege soll seine Fraktion gegen seinen Willen durchgedrückt haben.
Fragt man aber nach, mit welchen Inhalten die SPD eine Zukunft haben könnte, lässt Reiter ausrichten, dass er das gerne der Fraktion und der Partei überlasse. Die Münchner SPD-Chefin und Bundestagsabgeordnete Claudia Tausend will sich zur Ausrichtung ihrer Partei in der Stadtpolitik ebenfalls nicht äußern - sie wolle das Rathaus im Rathaus belassen, teilt sie mit.
In den Chefbüros dort sitzt indes noch eine Sozialdemokratin, die sich Gedanken um die Zukunft ihrer Partei machen sollte. Schließlich wird sie im Gegensatz zu Dieter Reiter nicht nach dieser Amtsperiode in Rente gehen. Verena Dietl ist seit vergangenem Frühjahr Dritte Bürgermeisterin. Die SPD müsse klarer kommunizieren, verschiedene Wege dafür nutzen, ihre Ideen besser rüberbringen, sagt sie. Diese seien "nach wie vor die richtigen". Ihretwegen sei sie vor 20 Jahren in die Partei eingetreten, und sie müssten bei den Menschen wieder ankommen. Aber wie? Wieder mehr zuhören, sagt Dietl, keine Politik von oben herab machen, schauen, wie es den Menschen geht. Und ja, die Partei müsse auch mal eine Art thematische Inventur machen. Festlegen, was die Schwerpunkte sein sollen - Dietl sieht sie im sozialen Bereich. Sie macht sich Gedanken um die Zeit nach der Pandemie. Da müsse man "etwas anbieten für Kinder und Jugendliche, klare Antworten formulieren und umsetzen".

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Wenn die Corona-Zahlen so niedrig bleiben, schließt Dieter Reiter eine Rückkehr zum Präsenzunterricht mit Maskenpflicht nicht aus. Auch hält er es für denkbar, dass sich wieder zwei Haushalte treffen dürfen.
Die Enttäuschung über die etwas einseitig gewordene Liebe zwischen München und der Sozialdemokratie, sie kommt auch im Gespräch mit Dietl stark durch. Man habe immer gedacht, die SPD und München, das sei etwas Besonderes. Nun müsse man zur Kenntnis nehmen, dass die Menschen das mittlerweile anders sehen. "Wir denken, wir machen doch so viel - warum kommt das nicht an?"
Die SPD bietet sich doch an, in den sozialen Medien nutzt sie gern den Hashtag "Münchenliebe", ein Etikett, das bei Instagram an Fotos geklebt wird, auf denen sich die Stadt von ihrer bezauberndsten Seite zeigt. Im Winter ließ die SPD rote Masken anfertigen, mit dem Schriftzug "Münchenliebe" drauf. Sie schenkt der Stadt ihr Herz - doch es kommt grad wenig zurück.
Das gilt für die Münchner im Zentrum genauso wie für diejenigen, die am Stadtrand leben. Ein Blick auf zwei ausgewählte Stadtbezirke: In Au-Haidhausen erhielt die SPD 2008 bei der Kommunalwahl 38,9 Prozent der Stimmen. Sechs Jahre später kam sie auf 29,6 Prozent und zuletzt 2020 nur noch auf 20,9 Prozent. Noch einmal so eine Rückgang brächte die SPD in die Nähe der Kleinparteien. In Haidhausen haben die Grünen die Wähler von der SPD übernommen, der Stadtteil gilt als Hochburg der Radfahrfreunde.
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Im Hasenbergl sehe das Leben anders aus, da bräuchte man vielleicht schon noch ein Auto, sagte Hübner kürzlich in einem AZ-Interview. Die Grünen sind dort tatsächlich nicht so erfolgreich wie in Haidhausen, aber die SPD hat ähnliche Verluste. Ihre Werte im Stadtbezirk Feldmoching-Hasenbergl sanken bei den Kommunalwahlen von 45,0 (2008) über 34,2 (2014) auf 21,5 Prozent (2020). Reicht es da, freundlicher und offener aufzutreten und die eigenen Verdienste besser darzustellen? Oder braucht es nicht doch eine neue Leitidee, die zumindest die Fraktionschefin sucht?
Im ersten Jahr der grün-roten Koalition versuchten es die Sozialdemokraten mit der Verkehrswende. Also mit dem Hauptwahlkampf-Thema der Grünen, das auch viele in der SPD-Fraktion als zentral ansehen. Reibereien gab es dabei immer wieder, aber eher atmosphärisch als inhaltlich. Bis die Fraktionsspitze der SPD nach dem nicht abgesprochenen Vorschlag der Grünen, sich als Modellkommune für Tempo 30 zu bewerben, eskalierte. Müller sprach vom "Autohass" der Grünen, Hübner zeigte sich zu einem Bruch des Koalitionsvertrags bereit, um das neue BMW-Forschungszentrum mit einem Tunnel besser an den Autoverkehr anzubinden.
Was nach außen aufgescheucht und fast hysterisch wirkte, hatte intern einen Grund. Die SPD hat festgestellt, dass viele Münchner eine Verkehrswende wollen, dafür aber die Grünen wählen. "Grün-rote oder rot-grüne Politik (und letzteres ist mein persönlicher Anspruch) entsteht nicht, wenn zwei Fraktionen grüne Themen in den Mittelpunkt stellen", schrieb Hübner in ihrer Selbstreflexion. Die SPD müsse sich absetzen, und sie begann gleich damit. Die "schwierigen Fragen" zur Klimaneutralität 2035, zur Wärmeversorgung oder zur Transformation von alter Industrie hin zu moderner Technologie seien unbearbeitet geblieben, "weil plakative (aber in der Konsequenz kleine Themen) zwar viel Wind, aber wenig Energie erzeugt haben". Schöner Gruß an die Grünen.
Gewinnt die SPD neue Wähler, indem sie sich um Stehtrinker kümmert?
Hübner hat mit ihrer Aufzählung Themen gesetzt. Fragt man in ihrer Partei weiter, kommen bei vielen aber nur bekannte soziale Themen, gerne bis in die kleinste Verästelung zum Beispiel die Probleme der Stehtrinker am Hauptbahnhof und die guten Lösungen der SPD. Man müsse an die Abgehängten denken, die in München nicht mehr mithalten könnten. Verbunden wird dies gerne auch von Christian Müller mit einem alten, inneren Schmerz: Gerhard Schröder, seine Hartz-IV-Reformen und sein Hochmut seien ein Grund für den Niedergang, die SPD habe viele soziale Wähler verloren. Aber wo sind diese Gekränkten alle hin?
Bei den Linken in München sind sie nicht gelandet, die krebsen konstant bei drei Prozent herum. Einige gehen wohl nicht mehr zu Wahlen, noch mehr dürften das teure München verlassen haben, weil sie es sich nicht mehr leisten konnten. Auch wenn die Stadt zuletzt langsamer wuchs, jedes Jahr verlassen etwa 100 000 Menschen die Stadt, ebensoviele kommen neu, weil sie gute Jobs finden. Aber wählt die frisch zugezogene Software-Entwicklerin bei Google die SPD, weil sie sich um Stehtrinker kümmert und das verlorene Vertrauen nach Schröder wieder herstellen will? Lässt sie sich von der SPD überzeugen, weil die das Thema "gute Arbeit" in den Mittelpunkt stellt?
Das mit der "guten Arbeit" ist eine der Ideen der Fraktionsspitze. Sich kümmern um die Beschäftigen in Gastronomie und Hotellerie, die nach Ansicht von Müller nach Corona erst mal wieder auf die Beine kommen muss. Große produzierende Unternehmen wie BMW wieder mehr in den Fokus nehmen. Die Wirtschaft stärken, um den Wohlstand zu sichern. Das habe man in der Vergangenheit nicht intensiv genug vertreten, sagt Müller: "Die Sicherung von Arbeitsplätzen wird in den nächsten Jahren deutlich stärker im Fokus stehen." Man werde sich "strecken" müssen, um den Wohlstand zu bewahren. Corona könnte die alten Themen wieder aktuell machen.
Die SPD müsse den Wandel der Unternehmen unterstützen, ergänzt Hübner, "aber nicht als willfähriger Handlanger, sondern auf Augenhöhe". Es habe zuletzt zu viele Anträge zu Nischenthemen gegeben, als Beispiel nennt Hübner das Verbot von Ponyreiten auf Festen oder Jahrmärkten. Die Fraktionsvorsitzende glaubt, dass die aktuellen Diskussionen der Koalition großteils an dem vorbeigehen, was die Menschen wirklich beschäftigt. "Ich glaube, dass mehr Ernsthaftigkeit ins Rathaus einziehen muss." Deren Hüterin will die SPD künftig sein, auf dass sich wenigstens ein Teil der Münchnerinnen und Münchner wieder verliebt - und ein anderer Teil vielleicht zum ersten Mal.