Süddeutsche Zeitung

Rathaus-SPD:Eine Partei und ein paar Grundsatzfragen

  • Der Wechsel von Alexander Reissl zur CSU stellt die Rathaus-SPD vor grundsätzliche Fragen: Für was will die Partei aktuell stehen? Und wer soll sie bei der Kommunalwahl im März wählen?
  • Über Jahrzente war die Münchner SPD fest in ihren Milieus verwurzelt. Durch die Auflösung des Arbeitermilieus und den Veränderungen in der Stadt verliert die Partei ihre Stammwähler.
  • Auch bei Jüngeren tun sich die Sozialdemokraten schwer: Die Klimaaktivisten von Fridays-for-Future bevorzugen die Grünen.

Von Heiner Effern

Wenn einer Partei der Spitzenmann im Stadtrat verloren geht, wenn einer ihrer mächtigsten Männer im Rathaus zum Gegner überläuft, geht das nicht spurlos vorüber. Weder intern bei den Politikern, noch draußen bei den Wählern. Der überraschende Wechsel des SPD-Fraktionschefs Alexander Reissl zur CSU am Montag berührt Grundsätzliches, das über persönliche Befindlichkeiten hinausgeht. Ist es ein Zeichen des fortschreitenden Niedergangs der SPD, wenn sich ein Alt-Sozialdemokrat wie Reissl von seiner Partei und deren Inhalten so entfremdet, dass er es nicht mehr in ihr aushält? Oder ist es ein Zeichen des Aufbruchs und der Neuorientierung, in der man alte Denkweisen und Gewissheiten neu justieren muss?

Letztlich geht es um zwei zentrale Fragen: Wer will diese Münchner SPD im Jahr 2019 sein? Und wer soll sie bei der Kommunalwahl am 15. März 2020 wählen?

So existenziell wie in diesen Monaten musste sich die SPD in München möglicherweise noch nie hinterfragen. Es gab schon immer Streit um Personen und Inhalte, doch diesmal könnte es darum gehen, ob sie auch in Zukunft eine relevante politische Kraft in der Stadt sein wird. Die SPD geht mit deutlich mehr Ballast in die Kommunalwahl als ihre Hauptgegner von der CSU und den Grünen: die Querschüsse im Bund, die fast schon verschwundene bayerische SPD, die vielen herben Niederlagen, die irgendwann in ein Verliererimage münden, das der Wähler gerne noch zusätzlich straft. Um sich dem entgegenzustemmen, muss die SPD ihr Potenzial definieren und das Lebensgefühl der Wählerschaft (wieder) treffen.

Über Jahrzehnte hat es die Münchner SPD geschafft, in der Lebenswirklichkeit ihrer Milieus präsent und verwurzelt zu sein. In Vereinen, in den Gewerkschaften, in den Betrieben. Einem wie Alexander Reissl konnte darin kaum ein Sozialdemokrat etwas vormachen. Doch der Boden für solch eine Verwurzelung sind festgefügte Strukturen. Und dieser Boden wird immer dünner. Die Gewerkschaften haben mit Mitgliederschwund zu kämpfen, Vereine haben teilweise eine hohe Fluktuation, Jobs für klassische Arbeiter gibt es immer weniger, tendenziell geht der Trend zu weniger und eher punktuellen Bindungen. Dazu wächst München nicht nur rasend schnell, sondern verändert auch ständig sein Gesicht. 2018 und 2017 zogen jeweils mehr als 100 000 Menschen zu, in einer ähnlichen Größenordnung verließen Einwohner die Stadt.

Neben einem festen Bestand an Alt-Münchnern gibt es also einen enormen Anteil in der Bevölkerung, der sich stark verändert. Da reichen die Rezepte von früher, die man für die schwindenden Stammwähler weiter verfolgen sollte, nicht mehr aus. Doch welche Sorgen und Probleme teilen all die neuen, flach verwurzelten, mit den alten Münchnern?

Die hohen Mieten, heruntergekommene oder fehlende Schulen, volle Bahnen, Tramzüge und Straßen, Engpässe bei der Kinderbetreuung, der finanzielle Druck und das Leben in einer proppenvollen Großstadt. Dazu kommt das steigende und offenbar auch konstante Bedürfnis, mit der Umwelt sorgsamer umzugehen als bisher. Das nutzt den Grünen derzeit in einem Ausmaß, dass sie sich selbst manchmal zwicken müssen.

Auch in der Umweltpolitik steckt die SPD in einem Dilemma

Seit gut einem Jahr ist deutlich zu erkennen, dass zumindest einige in der SPD Konzepte entwickeln, um diesen Menschen ein politisches Angebot zu unterbreiten. Kostenfreie Kitas, eine MVV-Reform, die für die meisten Münchner stabile Preise bedeutet, kostenloser Eintritt für Jugendliche in den Freibädern diesen Sommer, Verdopplung der München-Zulage, Wachstumsstopp bei den Mieten für Bewohner von städtischen Gebäuden, ein Vorstoß, die Grundsicherung um 100 Euro zu erhöhen, kostenloser Mittagstisch und Streetworker für bedürftige Senioren. Nicht alle Ideen stammen von der SPD, doch sie lassen erkennen, was sie in Zukunft sein könnte: die Partei, die Druck rausnimmt aus dem Alltag der Menschen. Nicht wenige dieser Initiativen nahmen einen steinigen Weg durch die Fraktion, die SPD musste mühsam lernen, dass viel mehr und ganz andere Menschen Hilfe gebrauchen können als bisher gedacht. Nicht nur der untere Rand der Gesellschaft, sondern Menschen weit bis in die Mittelschicht hinein. Mehrmals besserte die SPD bei den Einkommensgrenzen für die Kita-Gebühren nach. Oberbürgermeister Dieter Reiter drängt schon länger in diese Richtung. Die SPD täte gut daran, dieses Profil zu schärfen. Eine moderne Kümmerer-Partei auch für diejenigen zu sein, die es in den Augen alter Sozialdemokraten nicht verdient oder nötig haben. In einem Dilemma befindet sich die SPD im Umgang mit dem Klimawandel.

Die 40 000 Fridays-for-Future-Demonstranten von vorvergangener Woche marschierten weitgehend an der SPD vorbei in die Arme der Grünen. Was tun? OB Reiter entschied sich, um diese Menschen zu kämpfen, auch auf die Gefahr hin, den Grünen in die Karten zu spielen. Gemeinhin gilt in der Politik, dass die Wähler bei einem Thema eher das Original goutieren als die Nachläufer.

Doch was wäre die Alternative? Das derzeit präsenteste politische Thema zu ignorieren und komplett den Grünen zu überlassen? Die Münchner CSU verspottet zwar die Sozialdemokraten deshalb, ihr eigener Ministerpräsident Markus Söder hat sich im Freistaat aber längst aufgemacht, die CSU gibt sich dort so grün wie nie zuvor. Eine Partei, die Antworten auf die derzeit wichtigsten Lebensfragen der Menschen verweigert, weil andere früher dran waren, wird dadurch keine Wähler gewinnen.

Verkehrswende ist deshalb zum Beispiel in der SPD-Stadtratsfraktion nun angesagt. Das heißt nicht, dass der öffentliche Nahverkehr als Hauptrückgrat der Mobilität in München vernachlässigt werden soll. Doch die immer voller werdenden Straßen und Gleise, der Gedanke um die Zukunft der Erde und die Konkurrenz um öffentliche Flächen erfordern neue Konzepte. Die müssen sich nicht immer mit den grünen Ideen decken, sondern mit den Bedürfnissen der Menschen. Viele haben das Gefühl, dass ein Weiter-so zum endgültigen Kollaps führt. Dafür muss die SPD auch mal etwas riskieren und eventuell manch alten Münchner verprellen, wie etwa beim Radweg an der Fraunhoferstraße und der Streichung einer Fahrspur an der Ludwigsbrücke.

Mitentscheidend wird jedoch sein, wie überzeugend die Sozialdemokraten auftreten. Alexander Reissl wird da nicht fehlen, er hat selbst gesagt, dass er mit solchen Ideen nichts anfangen kann. Auch dem Oberbürgermeister waren schmale Radwege lange Zeit egal, aber er hat erkannt, dass sie als Symbol dienen für moderne Mobilität. Viel wird davon abhängen, ob Dieter Reiter Lust auf Wahlkampf, Lust an diesen neuen modernen Konzepten versprüht.

Nur bis zur Wahl so weiterzuregieren, wird ausschließlich ihm nutzen. Er spricht die Sprache der Menschen, er kann Ideen gut gelaunt anbringen. Auch darin muss sich die SPD wandeln: Der Wähler sollte den Eindruck erhalten, dass moderne Politik Spaß machen kann, und nicht das Gefühl vermittelt bekommen, dass er sich bei der SPD für vergangene Leistungen erst mal bedanken soll - weil die sonst beleidigt ist. Wenn dem OB, der Fraktion und der Partei dies gelingt, wird die SPD bei der Kommunalwahl nicht durch die Decke schießen. Aber sie könnte ein Ergebnis erzielen, auf das sie ihre Zukunft aufbauen kann.

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Quelle:
SZ vom 02.10.2019/lfr
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