Dort, wo einst der Aufstand gärte, riecht es jetzt sehr bürgerlich nach frischer Wäsche. In der ehemaligen Kellerwohnung von Dieter Kunzelmann trocknen die Bewohner der Bauerstraße 24 heute ihre Bettbezüge. Eine freundliche Mieterin hat gerade Pizzakartons zum Altpapier gebracht. Lockdown-Lunch. Sie gewährt einen kurzen Blick. Ja, gehört hat sie davon, dass der Kunstaktivist und spätere Terrorist in diesem Haus gelebt hat. Kleines Fenster auf den Gehsteig, Toilette über den Hof. "Was macht der jetzt eigentlich, lebt der überhaupt noch?"
Kunzelmann ist vor drei Jahren in Berlin gestorben. Aus diesem Keller ist er aber schon ausgezogen, bevor im Jahr 1968 die Studentenproteste das ganze Land erfassten. In Berlin gründete er die berühmte Kommune 1. Einen Mitbewohner von damals, Rainer Langhans, sieht man heute noch durch Schwabing wandeln wie eine Erscheinung aus vergangener Zeit. Einem anderen, Fritz Teufel, werden wir später noch begegnen bei unserem Spaziergang auf den Spuren eines bewegten Jahres durch Schwabing. Ein anekdotisches Schlendern zu den Schauplätzen prägender Entwicklungen, skurriler Vorkommnisse und dramatischer Ereignisse (die GPX-Tracks finden Sie hier).
Schauplätze und Mode der 68er: Die langen Haare waren damals dem Stil geschuldet, nicht dem Lockdown.
Hinter der Mensa entstand die erste Kita in Elterninitiative.
Im Keller der Bauerstraße 24 hauste Dieter Kunzelmann.
Das Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität war ein beliebter Ort für Sit-ins, ob zum Vietnamkrieg oder zur Kinderbetreuung.
"In der gesamten Bundesrepublik gab es keinen lebendigeren Ort als München-Schwabing mit all seinen Künstlern, Studenten, Gammlern und der liberal gesonnenen Münchner Einwohnerschaft", erinnerte sich der in Bamberg geborene Kunzelmann später: "Preiswerte Wirtschaften, Straßencafés, Stehkneipen, Jazzlokale, Galerien, Filmkunst-Studios, Buchhandlungen, die Leopoldstraße, der Englische Garten - in Schwabing pulsierte das Leben." In Berlin gründete der Liebling linker Spontis nicht nur die Terrorgruppe Tupamaros, die später auch einen Ableger in München hatte. Er war auch der Anstifter hinter einem antisemitschen Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus am 9. November 1969. Zu diesem Schluss kommt zumindest Wolfgang Kraushaar, renommierter Chronist der 68er-Bewegung.
Zwei andere Akteure der Zeit zog es 1968 in die gegengesetzte Richtung: Die Berliner Henry Heppel und Wolfgang Ettlich kamen nach München, weil sie raus wollten aus der ummauerten Stadt und "weil man von hier immer geradeaus gleich in Italien ist", erinnert sich Ettlich. Sie starteten im Jennerwein an der Ecke Clemensstraße/Belgradstraße, bevor sie in der Kaiserstraße 67 das Heppel & Ettlich eröffneten. Auf dessen Bühne traten Fredl Fesl, Doris Dörrie und Christoph Süß auf, und Christian Ude tat seine ersten Schritte als Kabarettist. 2009 zog die Bühne um an den Wedekindplatz. In der Kaiserstraße gibt es statt Musik und Theater jetzt Gambas auf dem Salzstein. Zumindest wenn die Restaurants wieder öffnen.
Die Kaiserstraße geradewegs durch und über die Leopoldstraße führt der Weg in die Fendstraße zu einem Schauplatz, an dem deutlich wurde, dass die von Kunzelmann gelobte liberale Gesinnung der Münchner auch ihre Grenzen hatte. Dreimal war Fritz Teufel im Juni '68 mit ein paar anderen langhaarigen "Gammlern" aus Schwabinger Lokalen geworfen worden. Aus Zorn darüber schleuderte der 26-Jährige dem Wirt des Weinbauer in der Fendstraße 5 einen Leberkäs mit Ei ins Gesicht. Während Teufel deswegen drei Tage in Stadelheim verbrachte, wurde an Kneipen- und Küchentischen darüber gestritten, ob die Aktion eine überfällige Auflehnung gegen gesellschaftliche Konventionen war, oder doch eher die Flegelei eines Geltungsbedürftigen.
Auf der Leopoldstraße geht es weiter stadteinwärts bis zur Mensa. Nachdem Studierende mit Kindern wiederholt Sit-ins mit Spielzeug, Fingerfarben und improvisiertem Sandkasten in der Aula der Universität abgehalten hatten, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, eröffneten Eltern 1968 im Leopoldpark hinter der Mensa eine der ersten selbst verwalteten Kitas. Den Uni-Kindergarten gibt es bis heute.
Die Kunstakademie, nur einige Hundert Schritte entfernt vom Leopoldpark, ist 1968 eines der Zentren der Studentenbewegung. Aus Protest gegen die Notstandsgesetze, die eine Einschränkung der Grundrechte im Verteidigungsfall und im Fall innerer Spannungen regelten, traten ihre Studenten im Mai für drei Tage in einen Streik, sogar einige Professoren schlossen sich an. Ein "Widerstandszentrum" wurde eingerichtet, das Aktionen plante und Flugblätter produzierte. Am 28. Mai hängen am Siegestor große Plakate. "Kein zweites 1933" steht auf einem. Auf einem anderen: "Streik gegen Notstand". Ein weiteres zeigt ein Hakenkreuz mit der Warnung "nicht noch einmal".
Damit sind wir im Zentrum der Ereignisse angelangt: Im Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität begegneten sich täglich Professoren, die in den Augen der Jugend "den Muff von 1000 Jahren" unter den Talaren trugen, und Studenten, die die Verhältnisse auf den Kopf stellen wollten. Am 14. Februar veranstaltete der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) einen "Teach in" zum Vietnamkrieg im Lichthof der Universität. Gegner empörten sich über die "Krakeeler" und schimpften den SDS eine "Pestbeule" im Hochschulbetrieb.
Treffpunkt der engagiertesten aber auch ideologisch gefestigteren Studenten war das Café des Trikont-Verlages in der Schellingstraße 16. Hier konnte man lesen, debattieren und Plakate malen. Der alternative Verlag war 1967 in Köln von Apo-Aktivisten gegründet worden und kurz darauf nach München gezogen, zunächst in die Georgenstraße 73. Die Räume in der Schellingstraße pachteten die Jungverleger mit der Ansage, dort ein Café eröffnen zu wollen, in dem auch Bücher und Zeitschriften auslagen. Mit dem Ergebnis, dass das Münchner Traditionsunternehmen bald feststellen musste, dass aus seiner Immobilie heraus die Schriften von Mao, Ché Guevara, Fidel Castro und Rudi Dutschke verbreitet wurden.
Womit wir bei den dramatischen Ereignissen angekommen wären: Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 bricht in der ganzen Republik eine Protestwelle los, die sich gegen den Springer-Konzern richtet. " Bild hat mitgeschossen", lautet die Parole, weil das Boulevardblatt in den Wochen vor den Schüssen gegen den sozialistischen "Rädelsführer" gehetzt und gefordert hatte, man dürfe "nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei überlassen". An vielen Orten schlagen die Proteste in Gewalt um; das Münchner Univiertel wird in den kommenden Tagen zur Kampfzone.
Noch am Abend marschieren Hunderte Demonstranten zum Buchgewerbehaus, wo die Bild-Zeitung produziert wird. Es liegt am Rand des Univiertels an der Ecke Schellingstraße/Barerstraße, schräg gegenüber dem Schelling-Salon. Gegen Mitternacht stürmen die Demonstranten die Redaktion und werfen Akten aus den Fenstern. 16 Personen werden verletzt. Am nächsten Abend, es ist Karfreitag, gehen die Tumulte weiter: Etwa drei- bis vierhundert Demonstranten bauen vor der Ausfahrt des Buchgewerbehauses in der Barerstraße Barrikaden aus Bänken, Balken und Steinbrocken, um die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern. Mit Knüppeln und Wasserwerfern vertreibt die Polizei die Menge, erst gegen Mitternacht kann die Auslieferung beginnen.
Die Polizei ergreift Vorsichtsmaßnahmen: Am Ostermontag wird das Buchgewerbehaus weiträumig abgeriegelt. Trotzdem kommt es wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Einsatzkräften und Demonstranten. Dabei trifft ein Stein den Fotoreporter Klaus Frings ins Gesicht, zwei Tage später erliegt er im Krankenhaus seinen Verletzungen.
Während in diesem Fall unumstritten ist, dass der Stein aus der Richtung der Studenten geflogen kam, sind die Umstände bei dem zweiten Todesopfer an diesem Tag nicht so eindeutig: Der Student Rüdiger Schreck stirbt an einer Schädelfraktur. Die Polizei gibt wieder den Demonstranten die Schuld, aber in den Filmaufnahmen, die sie von den Krawallen gemacht haben, fehlt ausgerechnet der Moment, in dem Schreck getroffen wird. Der Fall konnte nie aufgeklärt werden.