SZ-Serie: Streifzüge durch die Stadt:Mehr als Brot und Spiele

Olympiadorf

Das Olympiadorf ist eine kleine Stadt inmitten der Stadt.

(Foto: Florian Peljak)

Im Olympischen Dorf wurde nicht nur Sportgeschichte geschrieben. Hier wimmelt es von Installationen, Spielplätzen, Treppen und Röhren.

Von Dominik Hutter

Wer böse sein will, spricht von Brutalismus. So nennt man gemeinhin die Betonburgen der Sechziger- und Siebzigerjahre. Im Olympischen Dorf selbst, davon ist fest auszugehen, kann man mit diesem ziemlich negativ klingenden Begriff nicht viel anfangen. Die Bewohner schwärmen lieber vom vielen Grün, der Verbannung der Autos in den Untergrund und den angenehmen Wohnverhältnissen. Die niedrige Wegzugrate gilt als legendär, lieber zieht man innerhalb des "Dorfes" um, wie gerne gesagt wird.

Lange Zeit gab es in der Ladenstraße einen Dorfkrug, Neuigkeiten aus der Wohnanlage verbreitete der Dorfbote. Auch wenn es in dem 1972 zu den Olympischen Sommerspielen fertiggestellten Wohnquartier alles andere als dörflich aussieht. Mehr als 6000 Menschen leben hier, in Bauten, die bis zu 88 Meter in die Höhe ragen.

Der Spaziergang (die GPX-Tracks finden Sie hier) durch die lebendigste Hinterlassenschaft der Olympischen Spiele beginnt am U-Bahnhof Olympiazentrum (den Wegweisern gen Olympiastadion, nicht zum Olympischen Dorf folgen). Am Brundageplatz. Hier erinnert ein verfallender Busbahnhof an die Zeiten, als am Olympiazentrum noch die Münchner U-Bahn-Welt endete und die Bewohner nördlicherer Gefilde in den Bus umsteigen mussten. Der Platz ist nach Avery Brundage benannt, der 1972 sein letztes Jahr als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees absolvierte. Brundage war es, der an jenem furchtbaren 6. September nach dem gescheiterten Befreiungsversuch der israelischen Geiseln bei der Trauerfeier im Olympiastadion vor 80 000 Zuschauern die berühmt gewordenen Worte "The games must go on" sagte. Das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft überschattet für immer die ansonsten so heiteren und gelungenen Spiele, die Geiselnahme begann im Olympischen Dorf.

Folgt man dem gegenüber dem Busbahnhof startenden Kolehmainenweg, rechts an den Tennisplätzen vorbei, erhält man einen ersten Überblick über Aufbau und Charakter des Olympiadorfs. Die terrassenförmig angelegten Hochhäuser, die mit ihren riesigen Pflanztrögen und der nach oben immer weiter zurückspringenden Fassade viel weniger mächtig wirken, als sie eigentlich sind. Es gibt drei Wohnstraßen, die wie Finger westwärts ins Grüne ragen. Die Straßbergerstraße, die Nadistraße und - in Sichtweite des Kolehmainenwegs - die Connollystraße. Verbunden werden sie durch den Helene-Mayer-Ring, an dem sich auch das Ladenzentrum befindet. Direkt unterhalb des grünen Damms stehen zweistöckige Reihenhäuschen dicht auf dicht: die Studenten-Bungalows, die gerade erneuert wurden. Von Studierenden bewohnt ist auch das architektonisch von den übrigen Dorfbauten abweichende Hochhaus mit der großen 7 auf den Betontürmen.

Nach wenigen Minuten taucht links der Erinnerungsort am sogenannten Lindenhügel auf. Ein 2017 eröffnetes Mahnmal, das die Lebensgeschichte der Opfer von 1972 erzählt, über den Ablauf der Geiselnahme informiert und das Attentat in die damalige politische Lage einordnet. Auf den nahen Hügeln standen im September 1972 die Reporter und warteten, was sich im nahen Sportlerquartier an der Connollystraße 31 tat. Es liegt unterhalb des Walls in Sichtweite.

Der Rundweg führt aber erst einmal weiter, es geht rechts ab auf den Kusocinskidamm. Links befindet sich der Neubau der Zentralen Hochschulsportanlage, der etwas ulkig ins Nichts führende Weg markiert die Stelle, an der eine Brücke den Zugang zum Vorgängerbau darstellte.

Rechts über eine Fußgängerbrücke geht es in die Connollystraße. Deren Leitfarbe ist blau, das Symbol ein auf der Spitze stehendes Quadrat. Dieses Erkennungsmerkmal zieht sich durch die ganze Straße, es taucht auf den Schildern für die Hausnummern und den Wegweisern auf, die einen durch das reichlich komplizierte Nummernsystem lotsen.

Die Connollystraße 31 liegt auf der rechten Seite, eine Gedenktafel erinnert an das Attentat von 1972, das mit dem Tod aller elf israelischen Geiseln und eines deutschen Polizeibeamten endete. Auch fünf der acht Geiselnehmer starben. Das Foto eines mit Strumpfmaske vermummten Terroristen auf dem Balkon der Connollystraße 31 ging um die Welt.

Der lange Schatten des Attentats dürfte mit einer der Gründe gewesen sein, warum das Olympiadorf 1972 nach dem Auszug der Sportler wenig attraktiv für Münchner Wohnungssuchende war, ja als Geisterstadt galt. Erst ein paar Jahre füllten sich die Häuser, anfangs vor allem mit jungen Familien. Über allem wehte der stadtplanerische Geist der Siebzigerjahre: Zukunftsglaube. Neues versuchen, Gemeinschaftsflächen schaffen, alles sollte bunt und modern sein. Ein Stück weiter die Connollystraße: Der nahe Brunnen mit seinen farbenfrohen Röhren ist typisch fürs Olympiadorf. Es lohnt sich, bei dem Spaziergang immer wieder ein Auge auf die vielen fantasievollen Brunnen zu werfen. Oder auf Kunstwerke, eines steht gleich links oberhalb der Treppenanlage. Im Olympiadorf wimmelt es von derartigen Accessoires, von Installationen, ungewöhnlichen Spielplätzen, ebenso farbigen wie verwirrend angeordneten Wegesystemen, Rampen, Wendeltreppen und eben Brunnen.

Hinunter zu den Tiefgaragenstraßen

Aber wo sind die Autos? Im Pflaster unterhalb des geschwungenen Monuments befinden sich unauffällige Betoneinfassungen. Unter den Plexiglasscheiben verläuft das Tiefgaragensystem (meist nicht zu sehen, da die Scheiben schmutzig sind). Gleich gegenüber, wo die niedrigen Häuser einen Knick machen, gibt es einen Treppenabgang, der so wirkt, als führe er ins Haus. Tut er aber nicht - nur Mut, hier darf jeder nach unten steigen und einen Blick in die großzügigen Tiefgaragenstraßen werfen. Das Labyrinth ist riesig, Ortskundige nutzen es, um bei Regen trocken zur U-Bahn zu kommen.

Die Rundtour aber führt sofort wieder rechtsrum ins Freie, dann am Ende des Weges links Richtung Studentendorf. Das war, vor dem Abbruch der marode gewordenen Häuser und ihrem etwas abgewandelten Neubau, schon einmal deutlich bunter bemalt als heute - aber allmählich füllen sich die grauen Wände wieder. Die bemalten Fassaden sind das Markenzeichen jener kleinen Siedlung, die im Sommer mit ein wenig Fantasie an Dorfgassen auf den Kykladen erinnert. Wer will, kann nun ein bisschen durch die Wege streifen. Man ist fast ein wenig indiskret nah an den Wohnräumen, aber das gilt ja für jeden Passanten, auch die Bewohner selbst beim Heimgehen. So ist es eben.

Grobe Richtung: das Hochhaus mit der blauen Sieben, davor aber nach links zu dem schwarzen Mensa-Bau mit seinen großen Glasflächen. Hier, wo früher tatsächlich Mensaessen verabreicht wurde, befinden sich Mittelpunkte studentischen Lebens wie die Bierstube oder die legendäre Oly-Disco. Vor der Mensa führt eine Treppe hinauf in das Ladenzentrum. Im Olympiadorf ist alles auf Eigenständigkeit ausgelegt, niemand soll zum Einkaufen ewig laufen oder gar mit dem Auto fahren müssen. "Stadt in der Stadt" nennt sich dieses Konzept, es ist typisch für diese und viele andere moderne Wohnanlagen. Ein bisschen so wie in der Cité Radieuse in Marseille, wo sich die Stadt in der Stadt samt Supermarkt auf ein einziges Gebäude konzentriert. Überhaupt findet man im Olympiadorf einiges, was an den berühmten Architekten Le Corbusier erinnert. Dass sich viele Wohnungen, auch kleinere, über zwei Etagen erstrecken etwa. Dass knallige Farben als Orientierungshilfe dienen. Gebaut wurde das Münchner Olympiadorf von dem internationalen Architektenbüro Heinle, Wisch und Partner. Es steht heute unter Ensembleschutz.

Apropos Farben: Am oberen Ende der Treppe vor der Mensa stößt man auf weiße, blaue und gelbe Rohre, die auf Stelzen montiert sind: die sogenannten Media-Linien von Hans Hollein. Das System ist insgesamt 1,6 Kilometer lang und hilft bei der Orientierung: blau für die Connollystraße, grün für die Nadistraße und orange für die Straßbergerstraße. Weiß und gelb kennzeichnen den zentralen Bereich.

Hier, am sogenannten Forum 1, versteckt sich (vor dem Fruchthaus) ein Original-Marmorstein aus dem antiken Olympia, ein Geschenk aus Griechenland an den deutschen Austragungsort 1972. Typisch Siebziger ist das am Platzrand situierte Amphitheater, an dem viele achtlos vorbeischlendern (viel passiert dort allerdings auch nicht). Der Spaziergang geht durch die Ladenstraße zum Kirchenzentrum, dem ersten ökumenischen in München. Links beginnt die Nadistraße (dort steht wieder ein netter und sehr kindgerechter Brunnen). Zugegeben: Viele Leute können mit einer derart modernen Kirche, die von den Architekten Christ und Karg entworfen wurde, nicht viel anfangen. Mit diesem geradlinigen und schmucklosen Anti-Barock. Ein Blick ins Innere lohnt sich aber, in die Kirchenräume unter einer Deckenkonstruktion aus lauter Rohren. Die runden Luken in den Seitenwänden sind tatsächlich Kirchenfenster (das normalerweise nicht zu den Touristenmagneten zählende Gebäude ist allerdings oft verschlossen).

Der Rundgang geht an der Kirche vorbei in Richtung der orangefarbenen Röhren, zur Straßbergerstraße. Der sehr bunte Weg führt an den Pfarrhäusern und einem Kindergarten vorbei, vom Straßenverkehr ist wieder weit und breit nichts zu sehen (er verläuft hinter den Fenstern rechts des Wegs im Untergrund). Zwischen den Hausnummern 22 und 24 geht es zum Röhrenspielplatz - wer einen kurzen Abstecher in die Pädagogik der Siebzigerjahre machen will. Die Tour aber führt links die Treppe mit den lang gezogenen Stufen hinunter. Hier kann man schön das System der Ebenen erkennen, in denen das Olympiadorf angeordnet ist. Es gibt die Hochhäuser mit den gerade Hausnummern: bis zu zwölf Stockwerke, oben drauf befinden sich Penthäuser mit Alpenblick. Links des Hauptwegs sind alle Hausnummern ungerade.

Hier kommt erst der mittlere Bereich mit zahlreichen zweistöckigen Wohnungen, deren Etagen mit einer schmalen Wendeltreppe verbunden sind. Typisch sind offene Küchen mit Durchreichen, eher schmale Räume und große Balkone mit riesigen Betonpflanztrögen. Geht man die Treppe ganz nach unten, tauchen im Flachbereich zwei weitere Gebäudetypen auf: die Reihenhäuser (jeweils drei nur 3,75 Meter breite Etagen) und die Bungalows, deren Räume schon fast im römischen Stil um Innenhöfe angeordnet sind (von außen nicht sichtbar). Geradeaus geht es zu einer großen Betonfläche mit Basketballkörben. Einst Rollschuhplatz genannt, weil diese Sportart dort in den Siebziger- und Achtzigerjahren sehr populär war.

Der rote, leicht ansteigende Weg führt zu einer schneckenförmigen Rampe und die wiederum zu einer metallenen Weltkugel zu Füßen der in diesem Bereich recht mächtig wirkenden Hochhausfassaden. Wieder so ein Olympiadorf-Accessoire, wenn auch eines, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Einst konnte man das Innere erklettern, es gab drei mit Holzdielen belegte Etagen. Heute, in Zeiten ständiger Angst vor Gefahren, ist das beliebte Kinderklettergerät abgesperrt. Ein schmaler grauer Weg am unteren Ende der Rampe führt nun zur Weißen und Roten Stadt, zwei weiteren typischen Vertretern von Siebzigerjahre-Spielplätzen.

Die Ziegelbauten der Roten Stadt sind längst bunt bemalt. Einst wirkte die Anlage noch etwas höher - bis der Boden aufgeschüttet wurde, um die Folgen von Abstürzen zu mildern. Links an den Bungalows vorbei geht es, über einen kleinen Anstieg, zur autotauglichen Straßbergerstraße, der hinteren Ausfahrt des Tiefgaragensystems. Wer links dem Bogen folgt, kommt zum U-Bahnhof Oberwiesenfeld. Er wurde erst 2007 eröffnet, ist also alles andere als ein olympischer Bau. Aber er ist nach dem benannt, was vor 1972 war: Da befand sich an dieser Stelle eine weite Freifläche, die Oberwiesenfeld hieß und sogar einen richtigen Flughafen beherbergte. Den Vorgänger von München-Riem. Beide Flughäfen gibt es schon längst nicht mehr. Das Olympiadorf aber steht immer noch - und kann in seiner ganzen Betonprächtigkeit in zwei Jahren seinen 50. Geburtstag begehen.

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