SZ-Serie: Streifzüge durch die Stadt:Heimelige Inseln im Häusermeer

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Ein Spaziergang wird zur Zeitreise in Obergiesing, der Au und in Haidhausen, wo einst die Ärmsten der Stadt hausten - und heute schmucke Herbergshäusl etliche Millionen wert sind.

Von Tom Soyer

Als München erst noch auf dem Weg zur Großstadt war, hätten sich die Menschen draußen vor der Stadt, auf den Hochufern rechts der Isar, nicht träumen lassen, dass ihre einstöckigen Armeleute-Häuschen dereinst geschützte Baudenkmäler und idyllische Bastionen der Gemütlichkeit werden könnten. Herbergshäusl verströmen heimelige Atmosphäre inmitten eines immer höher und dichter werdenden Häusermeeres, sie haben Charme - und sie sind wertvolle Zeugnisse aus der Stadtentwicklung von vor 200 Jahren. Mit einer 5,7 Kilometer langen Spazier- oder Fahrradtour durch Giesing, die Au und Haidhausen kann man der Karriere dieser Heimat-Perlen nachspüren, die teils auch noch Zeugnisse einer beispielhaft klugen Rettung und Sanierung sind.

Die Tour beginnt in Obergiesing, in der sogenannten Feldmüller-Siedlung, und mit durchaus symbolhafter Absicht in der Oberen Grasstraße 1, wo ausnahmsweise die "Streetview"-Ansicht von Google-Maps zu Hilfe zu nehmen ist: Dort ist das denkmalgeschützte "Uhrmacherhäusl" nämlich noch immer zu sehen - und nur dort. In echt wurde es im September 2017 frevelhaft und illegal abgerissen, aber sofort zu einem Mahnmal engagierter Bürger gegen böse Immobilienspekulanten. Die Stadt prozessiert noch immer dagegen an und will es originalgetreu wieder aufgebaut haben, und dazu passt sehr hübsch, dass die Google-Kartenverwalter das Uhrmacherhäusl aus dem Jahr 1840 vorerst virtuell weiterleben lassen, dieses Baudenkmal mit der Nummer D-1-62-000-4866 in der Landesdenkmalliste.

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Die provisorische Holzverschalung vor der Baulücke ist gepflastert mit Protesthinweisen, am ebenfalls denkmalgeschützten Haus gegenüber (Obere Grasstraße 9) informiert der Hausherr regelmäßig am Zaun über aktuelle Protest-Aktivitäten. All das sind Beweise für die Liebe der Giesinger zu ihren schnuckeligen Herbergshäusln, deren es noch einige in den angrenzenden Straßen (Gietlstraße, Untere Grasstraße) gibt. Entstanden sind sie alle, weil Theres Feldmüller in den Jahren 1840 bis 1846 im damaligen Bauerndorf Giesing Geldsorgen plagten. So verkaufte sie winzige Ackerparzellen hinter der Kirche Heilig-Kreuz an Tagelöhner und Handwerker, denen sonst nur prekärstes Wohnen unten am Isarhang geblieben wäre.

Bis 1860 entstanden auf den Parzellen winzige Häuschen, direkt neben dem Bauerndorf, das ebenso wie die Au und Haidhausen am 1. Oktober 1854 zu München eingemeindet wurde. Die Feldmüllersiedlung war damit ein einzigartiges Ensemble für einfache Menschen, die in der Stadt als Bürger nicht gelitten waren, obwohl sie dort ihr Geld verdienten, und die es in bescheidenem Rahmen oben am Hochufer zu etwas gebracht hatten. Das Kleinsthausensemble wurde gebaut, womit und wie man halt gerade konnte, kein Häuschen wie das andere, mal mit Werkstatt oder kleiner Remise, mal mit Gärtlein am Haus, fast immer mit niedrigen Räumen und Fensterstöcken, die niedrig anmuten, wenn man draußen vorbeispaziert. Heute sind das Dorfreminiszenzen in der Millionenstadt.

Hatte München im Jahr 1801 noch geschätzte 40 000 Einwohner, so überstieg es laut Volkszählung die 100 000-Einwohner-Marke im Jahr 1852 und wurde damit zur Großstadt. Die dynamisch wachsende Siedlung brauchte viele Arbeitskräfte und Handwerker. Gehaust wurde draußen, vor der Stadt, wo heute Giesing, die Au oder Haidhausen liegen, in einfachsten Tagelöhnerhäusern, in denen mitunter in mehreren Schichten im selben Bett geschlafen wurde. "Schlafgänger" nannten sich Menschen, die sich gegen geringes Entgelt für einige Stunden am Tag in ein freies Bett einmieteten. Peter Klimesch, Chronist der Au mit Büchern wie "Drunt in der grünen Au" und "Bilder aus der alten Au" (München 2014 und 2019) beschreibt diese Prekariats-Erscheinung als Folge der aufkommenden Industrialisierung. Man kann sich das ein bisschen vorstellen, wenn man die kleinen Häuser sieht und sich vergegenwärtigt, dass da teils in jeder noch so winzigen Kammer eine Familie hauste.

Über die Gietlstraße, Am Bergsteig und die abfallende Straße Am Nockherberg wird der Kronepark umrundet, bis links die Nockherstraße hangabwärts abzweigt. Die Untere Au war auch so ein Herbergsviertel. Entlang des Auer Mühlbachs siedelte sich nicht nur eine Hoffischerei mit Teichen an, sondern auch Deutschlands lange Zeit führende Bettfederfabrik Billigheimer & Einstein. Am Fuße des Giesinger Berges kämpfte das vorstädtische Proletariat ums Überleben, etwa in der Nockherstraße, wo sich noch immer einige Herbergshäusl an den Hang ducken.

Die Abflussrinne für alle Hausabwässer gibt es im Straßenpflaster seit 1904 nicht mehr, dafür aber Gebäude wie die Nockherstraße 1, erbaut im Jahre 1813, oder gleich daneben das Haus Nockherstraße 3, das sich Ende November vorübergehend virtuell besichtigen ließ, weil es gerade zum Verkauf angeboten war. Um 1800 erbaut, 125 Quadratmeter Wohnfläche, über drei Etagen auf fünf Zimmer verteilt, also nicht üppig, aber inzwischen entkernt und hervorragend ausgestattet, wurde als zweigeschossiger Traufseitbau mit Schopfwalmdach für 1,29 Millionen Euro in einem gängigen Immobilienportal angeboten - und war zwei Tage später schon verkauft. Für das Arme-Leute-Quartier von einst eine beachtliche Entwicklung. Weitere Millionen-Wohnlagen im Herbergsformat finden sich in der Nockherstraße, immer unterm Hang des Kroneparks. Und dazu, vertiefend, viele schöne Fotos und Geschichten in Peter Klimeschs Büchern - der ehemalige Kleinkunstbühnenbetreiber und Realschullehrer wohnt selbst in der Nockherstraße. Auf der neueren Seite.

Über die Tauben- und die Falkenstraße geht's weiter am Mariahilfplatz vorbei bis zum Karree Am Herrgottseck/Sammtstraße/Franz-Prüller-Straße, wo ebenfalls noch einige ehemalige Tagelöhnerhäusl stehen. Fein herausgeputzt steht da etwa das Haus Franz-Prüller-Straße 11, und bei der Franz-Prüller-Straße 9, gleich am Auer Mühlbach, ist zu besichtigen, wie mit einem modernen, aber behutsam angefügten rotbraunen Holz-Anbau mehr Wohnraum geschaffen wird und das alte Kleinstwohnhaus zum Schmuckstück fürs Wohnen in der modernen Au wird. Wer dort kurz den Mühlbach überquert, steht nach wenigen Schritten durch den Kegelhof-Park am Jugendzentrum Au, wo die alten Auer Herbergshäusl auch auf einer ziemlich poppigen Wandmalerei verewigt sind.

Herbergsstuben armer Leute im historischen Zustand gibt es in der Preysingstraße 58, im Üblacker-Häusl der Stadt München zeitweise zu besichtigen. (Foto: Florian Peljak)

Durch die Lilienstraße, wo kurz vor der Ludwigsbrücke rechts noch einige denkmalgeschützte Häuser (etwa das rote mit den Hausnummern 9/11/13) stehen, die ebenfalls noch in die Zeit des dicht gedrängten Vorstadtwohnens verweisen, geht es weiter Richtung Gasteig und Haidhausen. Über die Kellerstraße hinterm Gasteig-Zentrum erreicht man die Milchstraße, läuft weiter bis zur Steinstraße, wo sofort eine lang gestreckte Gruppe niedriger, gut renovierter Häuser (Hausnummern 47, 49, 51, 53) ins Auge sticht, und gleich ums Eck in der Milchstraße noch einmal, etwa die Milchstraße 21: Jene Häusl waren in den 1990er-Jahren teils völlig heruntergekommen und wurden von der Münchner Gesellschaft für Stadtsanierung (MGS) klug in gute Hände gegeben: Ausschließlich Münchner Handwerker konnten sich um den Kauf zu stolzen Marktpreisen bewerben, es gab ziemlichen Andrang beim Verlosen.

Heizungsbauer Alexander Weng und seine Frau Christine waren unter den Glücklichen und können heute Fotos einer ehemaligen Ruine in der gemütlichen Stube ihres Drei-Generationen-Hauses vorzeigen. Das Nebenhaus habe die MGS selbst saniert, für satte 1,2 Millionen Mark seinerzeit, und gelernt: Wenn die Häuser erhalten werden sollen, dann nur, indem Handwerker sich gegenseitig bei der Sanierung ihrer Nachbarhäuser unterstützen und viel in Eigenleistung passiert. Genau so lief es 1996/97, heute gibt es bei den Wengs beste Nachbarschaft mit denen, die auch bei ihnen mitgeholfen haben, und die ihre Häusl in der Stein- und Milchstraße so lieben wie sie. Trotz aller Kaufangebote denken sie nicht daran zu verkaufen. "Als patriotische Münchnerin", deren Urgroßmutter "Prinzregent Luitpold noch die Semmeln an die Hintertür lieferte, schon zweimal nicht".

Herbergsstuben armer Leute im historischen Zustand gibt es dann in der Preysingstraße 58, im Üblacker-Häusl der Stadt München zeitweise zu besichtigen. Der Verein "Die Freunde Haidhausens" betreut Museum und Ausstellungsräume dort. Ein Abstecher zur Kirchen-/Elsässer Straße mit ebenfalls liebevoll restaurierten alten Herbergen (etwa: Elsässer Straße 14, Kirchenstraße 50) rundet die Tour dann weiter über den Johannisplatz zum Wiener Platz hin ab, wo am abschüssigen Hohlweg An der Kreppe noch einmal entzückende Herbergshäusl als bescheidene Monumente einer alten Zeit stehen. Ein abschließendes Glaserl Wein gibt's dann am Wiener Platz 4 - natürlich im alten Herbergshäusl.

© SZ vom 08.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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