Die Ziegelmauer zieht sich einmal ganz herum und lässt so gut wie keinen Einblick. Das Haupttor? Verschlossen seit mehr als 100 Jahren. Der heutige Eingang, hinten beim Taharahaus? Auch er zu, ein Schild weist darauf hin, dass Zutritt und Besichtigung nur bei Führungen der Volkshochschule möglich sind. Aber die gibt es im Moment natürlich auch nicht.
Der alte jüdische Friedhof an der Thalkirchner Straße in Sendling ist seit 1907 nicht mehr in Betrieb, und doch trägt er vieles von dem in sich, was jüdisches Leben in München ausmachte und ausmacht: stolzes Beharren, Vorhandensein, Selbstverständlichkeit. Aber auch Abschottung, Isolation, wenig Vertrauen in die Mehrheitsgesellschaft. Beim Gang zu bedeutenden Plätzen jüdischer Stadtgeschichte wird das wie eine Konstante fast überall erkennbar bleiben.
Der alte Friedhof in Sendling nahm 1816 seinen Betrieb auf. 1882, bei der letzten Erweiterung wurde das Taharahaus errichtet; dort wurden die Leichen vor der Bestattung gewaschen. 2,5 Hektar ist das Areal groß. Die 6000 Gräber sind nach Südosten ausgerichtet, dort liegt Jerusalem. 1907 wurde das Gelände zu klein; seitdem werden verstorbene Juden an der Ungererstraße bestattet, gleich gegenüber des städtischen Nordfriedhofs.
Der Weg führt nun Richtung Isar, denn es ist ein Stück zu laufen bis zum nächsten Geschichts-Punkt - Zeit nachzudenken über München und Juden, jüdisches München und Münchner Juden. Nach Osten geht's; da drüben liegt Giesing, wo der große FC Bayern seine Heimstatt hat - er wurde in seinen Anfangsjahren als "Judenclub" denunziert, wegen seines Präsidenten Kurt Landauer und seines Trainers Richard Kohn. Immerhin: Die allererste der mittlerweile zahllosen deutschen Meisterschaften stammt aus dieser Zeit, 1932 war's.
Und war nicht Bruno Walter Generalmusikdirektor am Nationaltheater? Hat nicht Hermann Levi 1882 die Uraufführung des "Parsifal" dirigiert, komponiert vom Antisemiten Richard Wagner? War nicht Lion Feuchtwanger ein Münchner, der mit seinem Roman "Erfolg" eine der am schärfsten beobachteten Beschreibungen vom Leben in den 1920er-Jahren und dem Aufstieg der Nazis schrieb?
Über die Fraunhofer- in die Reichenbachstraße. Hier, Hausnummer 27, ist der Ort der Rückkehr des Judentums nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg - aber auch der Ort, an dem Juden erkennen mussten, dass ein sorgenfreies, ein angstfreies Leben in München, in Deutschland für sie wohl nie mehr möglich sein wird. 1931 wurde hier eine Synagoge gebaut - die Gemeinde war durch den Zuzug aus dem Osten gewachsen, die Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße und jene an der Herzog-Rudolf-Straße reichten für die Zahl der Gläubigen nicht mehr aus.
Natürlich wurde sie von den Nazis in der so genannten "Reichspogromnacht" 1938 zerstört, die Feuerwehr verbot ihnen allerdings, das Haus in Brand zu stecken - das hätte im dicht bebauten Gärtnerplatzviertel leicht außer Kontrolle geraten können. Nach dem Krieg wurde die Synagoge wieder hergerichtet und war bis 2007 die Hauptsynagoge der Münchner Gemeinde. Im Vorderhaus lebten Senioren in einem jüdischen Altersheim.
Auf dieses Altersheim wurde am 13. Februar 1970 ein Brandanschlag verübt: Der oder die Täter hatten sich Zugang verschafft, waren mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren, hatten in jedem Stockwerk des hölzernen Treppenhauses ein Öl-Benzin-Gemisch verteilt und dieses am Ausgang angezündet.
Fünf Männer und zwei Frauen starben, eines der Opfer beim Versuch, sich durch einen Sprung aus dem vierten Stock zu retten. Als Täter wurden zunächst Rechtsextreme oder Palästinenser vermutet. Später richtete sich der Verdacht gegen linke deutsche Gruppen, namentlich Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann gerieten ins Visier der Ermittler. Beide wurden kurzzeitig festgenommen, die Indizien reichten jedoch für eine Überführung nicht aus. Die Brandstifter von der Reichenbachstraße sind bis heute unbekannt.
Heute ist das Haus sozusagen säkularisiert, es beherbergt Büros und Wohnungen. Geblieben ist in der Ansicht von außen eine Gestaltung wie beim Wachlokal einer Kaserne: Nach der Brandstiftung und anderen Anschlägen auf jüdische Einrichtungen in Deutschland wurde deren Schutz massiv verstärkt. Das war wahrscheinlich notwendig und vernünftig, dennoch scheint das Haus bis heute zu rufen: Bleib mir vom Leib! Der neue Mittelpunkt des jüdischen Lebens in München drückt diese Abwehr nicht ganz so stark aus - aber ganz verschwunden ist er auch nicht.
Es ist jetzt nur ein kleines Stück hinüber zum Jakobsplatz, wo 2007 das neue jüdische Zentrum eingeweiht wurde, bestehend aus der neuen Hauptsynagoge Ohel Jakob, dem Gemeindezentrum, in dem die Israelitische Kultusgemeinde ihren Sitz hat, außerdem Versammlungsräume, Grundschule und Gymnasium, Kindergarten, Jugendzentrum und das koschere Restaurant "Einstein". Zwischen den beiden Gebäuden liegt das Jüdische Museum, es wird von der Stadt getragen.
Vielfach gelobt und ausgezeichnet wurde die Architektur des Ensembles, die sich an der Jerusalemer Klagemauer orientiert. Doch ist unübersehbar: Einladend soll das nicht sein, das wirkt eher wie eine Trutzburg. Schon die Baustelle war durch einen Sichtschutz gesichert, der sehr viel mehr war als ein simpler Bauzaun. Dass das notwendig war, hatte sich vor der Grundsteinlegung am 9. November 2003 gezeigt: Neonazis der "Kameradschaft Süd" hatten einen Sprengstoffanschlag auf die Feier geplant, waren rechtzeitig entdeckt worden und wurden später zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Der nun folgende Weg durch die Innenstadt führt an der Schrammerstraße vorbei an der Rückseite des Marienhofs - hier lag die erste bekannte Synagoge Münchens, eine Vorgängerin wird vermutet, ihre Lage ist aber unbekannt. Der Gang ist auch ein Gang in die jüdische Wirtschaftsgeschichte Münchens - nicht wenige Juden tätigten erfolgreiche Geschäfte, waren selbständige Handwerker oder Kaufleute. So etwa Max Uhlfelder, der am Viktualienmarkt ein großes Kaufhaus betrieb - ausgestattet mit der ersten Rolltreppe der Stadt. Ebenfalls ein Großkaufhaus nannte Hermann Tietz am Hauptbahnhof sein eigen; der Name lebt im Akronym "Hertie" weiter. Josef Schülein, eigentlich Bankier, gründete in Haidhausen die "Unionsbrauerei Schülein & Cie.", die 1921 mit Löwenbräu fusionierte. In Berg am Laim baute der Brauer-Banker eine Siedlung mit Sozialwohnungen, heute ist dort der Schüleinplatz nach ihm benannt.
An der Herzog-Max-Straße kommt der Spaziergang an seinen Endpunkt. Dort lag die Alte Hauptsynagoge, 1887 eingeweiht, prominent und unübersehbar nahe des Stachus - vielleicht bis zum Bau des heutigen Gemeindezentrums der sichtbarste Beweis für die Anwesenheit jüdischen Lebens in München. Wahrscheinlich deshalb war sie den Nazis ein monumentaler Dorn im Auge, noch vor der Reichspogromnacht ließen sie sie abreißen, weil sie angeblich nicht mit dem direkt danebenliegenden Künstlerhaus harmonierte - nicht ohne der jüdischen Gemeinde die Kosten für den Abbruch in Rechnung zu stellen.
Seit 1969 erinnert ein Gedenkstein an den ehemaligen Mittelpunkt des jüdischen Lebens in München - ein Leben, das seit dem frühen Mittelalter immer da war und die Stadt geprägt hat. Das aber durch alle Zeiten immer auch in Gefahr war und bedroht.