Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Im Lichte der Stadt:Der Winter erlaubt Einblicke in sonst verborgene Welten

Wer im dunklen München einen Spaziergang macht, kann dank der hell erleuchteten Fenster in vielen Wohnungen trefflich Mutmaßungen über die Mitbürger anstellen. Mit Klischees sollte man aber vorsichtig sein.

Von Julian Hans

Hell leuchtet der Stern im Fenster eines Mehrfamilienhauses in der Brucknerstraße. Dahinter steht ein Mann und weint. Seine Haare sind grau, seine Brille hat er zur Stirn geschoben, mit den Fingern reibt er sich die Augen. Dann geht sein Blick hinaus auf die dunkle Straße, vielleicht sieht er auch nur sein eigenes Spiegelbild in der Glasscheibe, einen Mann wohl um die 60 Jahre alt, so viel kann man vom Gehweg aus gerade erahnen. Dann wendet er sich ab und verschwindet im Zimmer.

Zurück bleibt das erleuchtete Fenster mit dem Stern aus sandfarbenem Tonpapier wie ein Gemälde an der dunklen Fassade des Wohnblocks. Und die Fantasie. Was ist wohl gerade los im Leben dieses Menschen? Reibt er sich die Augen aus Kummer, oder ist er vielleicht nur müde? Was geht in ihm vor, wenn er an einem Abend Ende Dezember am Fenster steht und in die Dunkelheit schaut? Dann, wenn wir gewöhnlich zurückblicken auf das Jahr und Bilanz ziehen.

Zur Wintersonnenwende hat sich das gewohnte Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum umgekehrt: Die dick eingepackten Fußgänger auf den dunklen Straßen verschwinden in der Anonymität. Und die erleuchteten Fenster vieler Wohnungen gewähren Einblicke in gewöhnlich verborgene Welten. Ein Abendspaziergang durch Münchner Straßen lädt ein zu Mutmaßungen über die Mitbürger.

Dabei ist das katholische Bayern eigentlich nicht bekannt für seine Offenherzigkeit. Die galt bisher als Markenzeichen holländischer Calvinisten, die aller Welt beweisen müssen, dass sie nichts zu verbergen haben. Aber natürlich schleift die Globalisierung auch solche Unterschiede wie die Brandung eine Sandburg am Strand von Texel. Und zum anderen möchte man heute auch gern herzeigen, was man mit viel Liebe, Geld und dem gemieteten Geschmack erfahrener Raumausstatter gestaltet hat. Das eigene Leben wird mit viel Bedacht ins rechte Licht gesetzt, als würde man sein Glück auf einer Bühne für die Nachbarn präsentieren, sorgfältig ausgeleuchtet, versteht sich.

Da sind zunächst die Designlampen, die allein wegen des steilen Blickwinkels von der Straße aus als erste auffallen. Von manchen Schwabinger Stuckdecken hängen schneekugelartige Gebilde von solchen Ausmaßen, dass sie allein ein Zimmer im Studentenwohnheim komplett ausfüllen könnten. Bücherregale strahlen friedliche Bürgerlichkeit aus, sofern sie nicht mit Leitz-Ordnern vollgestellt sind, sonst muss man dort wohl Studenten vermuten oder Steuerberater im Homeoffice.

In der Maria-Josepha-Straße am Englischen Garten lassen die Bewohner eines zweistöckigen Hauses die Passanten teilhaben an ihrer gleichermaßen stilvoll und funktional gestalteten Designküche, in der die Schöpfkellen ordentlich aufgereiht von der Dunstabzugshaube über der Kochinsel herunterbaumeln wie bei den Profis. Der Kräutertopf und die halbe Ananas auf dem Fensterbrett setzen exotische Akzente in einer Zeit, in der ansonsten heimische Nadelgewächse die Wohnraumgestaltung dominieren. Im Zimmer nebenan sieht man die Bewohner mit Gästen gesellig speisen. Man möchte am liebsten anklopfen und sich dazusetzen in diese Runde.

Die Platznot in der Stadt findet auch in den Wohnungen ihren Niederschlag. In auffallend vielen Wohnungen aus der Gründerzeit haben die Bewohner Hochbetten gebaut, um den Raum voll auszunutzen. Die letzten Zentimeter zwischen Einbauschrank und Zimmerdecke werden als Ablagefläche für Dinge benutzt, die ein bisschen einstauben dürfen und da oben ja fast aus dem Blickfeld sind: Stofftiere in verblassten Farben, deren Besitzer sie entweder vergessen haben oder längst ausgezogen sind. Daneben die Originalverpackungen aus dem Jugendalter, vom Lego-Schloss und von der Spielkonsole. Eines Tages wird wieder jemand auf den Stuhl klettern und nach dem Karton vom Computer tasten, nur um festzustellen, dass ein zehn Jahre altes Gerät auf Ebay auch originalverpackt keine Begeisterungsstürme mehr auslöst.

Je nachdem, durch welche Gegend man spaziert, unterscheiden sich die Lichter, die in den Fenstern leuchten. Warm und zurückhaltend strahlen die Papiersterne in Schwabing oder Bogenhausen. Wenn in der nächsten Woche die Heiligen Drei Könige ausschwärmen, können sie davon ausgehen, dass die Bewohner hier etwas mit ihrer Botschaft anfangen können und mit den Kürzeln, die sie an die Türen malen.

Der Schwibbogen mit den aufgereihten Kerzen ist im ganzen Stadtgebiet beliebt. Besonders effektvoll wirkt er vor einer klassischen Spitzengardine. Im Erzgebirge hat er früher den Bergleuten den Weg ins warme Zuhause gewiesen, wenn sie in der Dunkelheit von der Arbeit unter Tage heim kamen. Für den modernen Bürokumpel lautet die Verheißung wohl, dass er nach acht Stunden im Großraumbergwerk die Krawatte lockern und die gemütlichen Stoppersocken anziehen darf, bevor er am Handy noch ein paar Mails beantwortet.

"München muss wieder leuchten", hat die CSU sich als Slogan für den Kommunalwahlkampf ausgedacht. Vorbild könnte Neuperlach sein, denn da leuchtet, blinkt und glitzert es in den Fenstern, dass es ein Fest ist! Vorbei mit der Bescheidenheit und der Zurückhaltung mit einem einzelnen Herrnhuter Stern im Zimmer oder ein paar elektrischen Kerzen. An den Fassaden der grauen Wohnblöcke am Gerhard-Hauptmann-Ring spielt die Lichtorgel in allen Neonfarben. Auf einem Balkon haben die Bewohner offenbar versucht, die Milchstraße mit Lichterketten nachzubilden. Ein Stück weiter tropfen animierte LED-Eiszapfen hinter der Fensterscheibe unaufhörlich vor sich hin. Am schönsten aber ist die verglaste Veranda im Erdgeschoss, über die ein Rentierschlitten aus gelbem Lichtschlauch galoppiert. Dahinter sitzt neben einer Zimmerpalme ein faltiger Mann mit ledernem Cowboyhut und raucht still eine Zigarette.

Natürlich gibt es auch genug Leute, die sich aus dem ganzen Jahresendspektakel nichts machen. Die in Zimmern mit kahlen Wänden unter einer nackten Glühbirne auf ihrem Gamer-Sessel vor einem großen Bildschirm sitzen und sich stundenlang kaum bewegen. Totale Kontemplation beim Ego-Shooter. Derweil ist das Fernsehen in Gesellschaft allem Anschein nach wirklich auf dem Rückzug. Als die großen Flachbildschirme in Mode kamen, konnte man mit etwas Glück Champions-League-Turniere auch ohne Sky-Abo verfolgen, wenn man den richtigen Blickwinkel ins Wohnzimmer des Nachbarn hatte. Aber dieses typische bläuliche Flackern, mit dem Fernseher einen Raum ausleuchten, sieht man heute immer seltener. Vielleicht liegt es ja daran, dass jeder in seinen eigenen kleinen Bildschirm guckt?

Wer durch die stillen Straßen geht, wer in der Kälte steht, dem scheint hinter jedem erleuchteten Fenster eine gute Stube zu liegen. Jedes Leuchten verspricht Behaglichkeit. Es ist, als würden die Stille und die Wärme des Lichts sich in die Winternacht ergießen. Hinter diesen Mauern müssen wohl friedliche und glückliche Familien leben. Obwohl ja jeder weiß, dass zu keiner anderen Zeit im Jahr so viel gestritten wird wie zwischen den Jahren.

Das Motiv der erleuchteten Wohnstuben und die Sehnsucht nach Frieden und Behaglichkeit, die in sie hinein projiziert werden, gibt es mindestens so lange, wie im Abendland Weihnachten gefeiert wird. Hans Christian Andersen hat danach eines der bekanntesten Weihnachtsmärchen geschrieben. Jedes Mal, wenn das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern ein Streichholz anzündet, um sich daran zu wärmen, werden die Mauern der Häuser durchsichtig und die Fantasie des frierenden Kindes wird lebendig: "Sie sah gerade in das Zimmer hinein, wo der Tisch mit einem glänzend weißen Tischtuch und mit feinem Porzellan gedeckt stand, und herrlich dampfte eine mit Pflaumen und Äpfeln gefüllte, gebratene Gans darauf! Und was noch prächtiger war, die Gans sprang von der Schüssel herab, watschelte auf dem Fußboden hin mit Gabel und Messer im Rücken, gerade auf das arme Mädchen kam sie zu. Da erlosch das Schwefelholz, und nur die dicke, kalte Mauer war zu sehen."

Aber eines lernen wir auch vom Mädchen mit den Schwefelhölzern: Man sollte vorsichtig sein mit Klischees und romantischen Projektionen. Wer sagt denn, dass das Leben hinter diesen erleuchteten Fenstern so sorgenfrei und friedlich ist, wie es das warme Licht verspricht. Und wer weiß denn, ob nicht der Herr, der hinter einem über zwei Stockwerke reichenden Panoramafenster in Bogenhausen an einem antiken Schreibtisch im Schein einer Bauhaus-Lampe zu nächtlicher Stunden konzentriert in seinen Laptop tippt, dort wirklich einen Roman schreibt oder ein philosophisches Essay? Vielleicht schreibt er auch nur anonyme Hasspostings auf Facebook.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2019/baso
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