Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie "Streifzüge durch die Stadt":Auf den Spuren der Liebe

Lesezeit: 7 min

Die Liebe hat in München Spuren hinterlassen, nicht nur romantische. Ein Streifzug zu Orten des Glücks, mittelalterlichen Bordellen und Deutschlands erster geburtshilflichen Einrichtung.

Von Jakob Wetzel

Die Stadt der Liebe? Als solche gilt gemeinhin Paris und nicht München, und das ist schade, hat sich die Stadt an der Isar doch viele Jahre lang große Mühe gegeben. Sie sei die "Weltstadt mit Herz", warb das Tourismusamt von 1962 an beharrlich, trotz aller Persiflagen als "Weltstadt im Nerz" oder "Weltstadt mit Schmerz". Zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 hieß es dann "Munich loves you". Knapp 450 000 Einwohner Münchens leben alleine, die Stadt ist tatsächlich eine Metropole der Singles. Und seit 2000 war auf zwei von drei Oktoberfest-Plakaten immer irgendwo ein Herzerl zu sehen.

Freilich: Dass sich in München alles um die Liebe drehen würde, lässt sich nun auch nicht behaupten, und die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie machen es nicht besser. Doch die Liebe hat in der Stadt Spuren hinterlassen, und zwar ganz unterschiedliche, denn auch bei ihr ging es nicht immer romantisch zu. Mal waren die Zeiten freiherzig, mal eher zugeknöpft, mal gefühlig, mal eher vulgär. Und es gibt einen Ort im Herzen der Stadt, der sich wortwörtlich um die Liebe dreht. Er ist schon deshalb ein guter Ausgangsort für einen Spaziergang auf den Spuren der Liebe - und zwar möglichst an einem ruhigen Sonntag, denn der Weg führt an vielen sonst lauten Baustellen vorbei ( die GPX-Tracks finden App-Nutzer hier ).

Treffpunkt Marienplatz. Jeden Tag um 11 Uhr und um 12 Uhr stößt dort, im Turm des Neuen Rathauses, ein bayerischer Ritter seinen Kontrahenten aus Lothringen vom Pferd, und dabei kreisen die beiden nicht etwa um einen Sack voller Preisgeld, sondern um ein Paar. Das Glockenspiel erinnert an ein Hochzeitsfest: Am 22. Februar 1568 heirateten in München der spätere Herzog Wilhelm V. von Bayern und Renata von Lothringen.

Im Neuen Rathaus, das es damals noch nicht gab, finden heutzutage auch ganz real Hochzeiten statt: Im Kleinen Sitzungssaal des Stadtrats können sich Paare standesamtlich trauen lassen, wenn sie eine Gebühr von derzeit 690 Euro bezahlen und etwas Glück haben, denn die Nachfrage ist enorm. Mit dem Fest, an welches das Glockenspiel erinnert, lässt sich das aber nur schlecht vergleichen. 1568 wurde eineinhalb Wochen lang gefeiert, immer wieder gab es Turniere auf dem heutigen Marienplatz, und zu Beginn wurden für das Fest 521 Ochsen in die Stadt getrieben, das sind mehr als viermal so viele, wie zuletzt auf dem Oktoberfest verzehrt wurden.

In puncto Liebe war der damalige Bräutigam allerdings speziell. Herzog Wilhelm, genannt "der Fromme", verdiente sich seinen Beinamen auch, weil er ein züchtiges Regiment durchsetzte. Nicht zuletzt ist er gegen die Prostitution vorgegangen. Von den Stätten, die das damals betraf, ist im Stadtbild heute nichts mehr zu sehen. Wer dennoch an die historischen Orte spazieren will, kann einen Abstecher ans Sendlinger Tor machen. Die anderen können abkürzen und zur Statue der Julia gehen. Am Sendlinger Tor war im Mittelalter die Stadt zu Ende. Dort stand, an der Stadtmauer und sozusagen im hintersten Winkel, ein von der Stadt verwaltetes Bordell; im selben Haus wohnte der Henker. Das Gebäude befand sich zwischen der heutigen Hauptfeuerwache und der Blumenschule am Sendlinger-Tor-Platz 14, in der heute die Meisterschule für Mode unterrichtet.

Das Haus für die "gemeinen Töchterlein", wie es damals hieß, hatte bereits 1437 der Magistrat und Herzog Ernst einrichten lassen. Der Herzog hatte zwei Jahre zuvor das Liebesglück seines Sohnes zerstört: Er hatte dessen Geliebte Agnes Bernauer ertränken lassen, weil sie als Baderstochter keine standesgemäße Partie war. Jetzt sollte das Bordell nicht etwa die Prostitution fördern, sondern sie vielmehr an den Stadtrand verdrängen. Wilhelm, dem Hochzeiter aus dem Glockenspiel, war das 142 Jahre später aber nicht mehr genug. Im Oktober 1579 trat er die Regierung an. Schon im Dezember ließ er das Bordell schließen.

Am Rande sei erwähnt: Jahrhunderte später hat sich die Geschichte hier in ähnlicher Form wiederholt. 1972, vor den Olympischen Spielen, vergrößerte die Stadt ihren Sperrbezirk und schmiss Freudenhäuser aus der Innenstadt. In der Nacht auf den 11. April 1972 blockierte die Polizei vier "Dirnenhäuser"; eines davon, die "Pension Wurm", stand an der Sendlinger Straße, einen Steinwurf entfernt vom Ort des mittelalterlichen Bordells. Ein weiteres stand an der Josephspitalstraße.

Zurück zu Wilhelm und seiner Zeit. Wenige Jahre vor der Hochzeit des frommen Prinzen hatte die Stadt an anderem Ort für Zucht und Ordnung gesorgt, und zwar auf dem heutigen Sankt-Jakobs-Platz. Dort wurde bis ins 18. Jahrhundert die Jakobi-Dult abgehalten. 1562 schaffte der Stadtrat einen eigenartigen Brauch ab, den es auf dieser Dult spätestens ab 1448 gegeben hatte: das sogenannte Fräuleinlaufen oder Hurenrennen. Das war ein Wettlauf von Prostituierten, der wohl vor oder nach einem Pferderennen stattfand und den Magistrat zunehmend störte. Es sei ein Ärgernis, klagte dieser 1562, dass die Frauen "so schändlich laufen, sich gar entblößen, jungen Leuten ein böses Exempel geben und sie anreizen, hinab zu kommen", gemeint ist: ins Bordell. 1564 gab es statt dem Hurenlauf dann einen Wettlauf junger Männer in Narrenkostümen.

Der Weg zurück zum Marienplatz führt über den Viktualienmarkt. An dessen Stelle stand bis 1806 ein Klosterspital der Heilig-Geist-Brüder, das auch für Prostituierte wichtig war. Schon im 15. Jahrhundert nahm es Findelkinder auf; 1589 wird eine Gebärstube für unverheiratete Frauen erwähnt: die erste geburtshilfliche Einrichtung in Deutschland. Ab 1782 war sie das Zentrum der Hebammenausbildung im Kurfürstentum Bayern. Passend dazu liegen in der Peterskirche, die über dem Viktualienmarkt thront, in einer Seitenkapelle links in einem gläsernen Sarg die Gebeine der Heiligen Munditia, einer frühchristlichen Märtyrerin, die heute als Patronin der alleinstehenden Frauen verehrt wird.

Hinter der Peterskirche steigen wir ein paar Stufen hinab, und es wird endlich romantisch: Wir stehen vor der Statue der Julia Capulet, der weiblichen Hauptfigur in Shakespeares "Romeo und Julia". Die Figur war 1974 ein Geschenk aus Münchens Partnerstadt Verona. Dort steht das Original von Nereo Costantini - und jene Statue macht Ähnliches mit wie die am Münchner Rathausturm, nur noch intensiver: Sie wird begrapscht, bis sie glänzt, besonders ihre rechte Brust. In Verona kleben Besucher zusätzlich Briefchen an die Wand oder malen Liebesschwüre auf die Mauer. Das hat sich in München nicht eingebürgert; stattdessen erhält die Figur hier hin und wieder Blumen in den Arm.

Durch die Burgstraße geht es zum Alten Hof - dort gerät die Heiratspolitik der Herrscher in den Blick. Auf dem Turm der Kaiserburg ist von außen ein vertraut wirkendes Wappen mit Löwen und weiß-blauen Rauten zu sehen. Beide Zeichen gelten heute als Symbole Bayerns; jahrhundertelang standen sie für Bayerns Herrschergeschlecht der Wittelsbacher mit seinen Herzögen, Kurfürsten und Königen. Doch die haben sich beide Zeichen erst mit der Zeit erheiratet; zuvor zeigte ihr Wappen einen Zickzackbalken. Die Rauten stammen dagegen von den Grafen von Bogen, in deren Familie Ludwig der Kelheimer 1204 eingeheiratet hatte. Den Löwen wiederum erhielten die Wittelsbacher von den Pfalzgrafen bei Rhein. Dort hatte Ludwigs Sohn Otto II. eingeheiratet; seine Frau Agnes war eine Enkelin von Münchens Stadtgründer Heinrich dem Löwen. Hätten die Herzöge anders geheiratet, wären Bayerns Symbole heute wohl ganz andere. Dass es dabei um Liebe ging, ist allerdings unwahrscheinlich. Otto II. war bei seiner Verlobung mit Agnes gerade sechs Jahre alt.

Auf den Spuren der Liebe geht es nun über Marienhof und Albertgasse zur Frauenkirche. Neben der Tür zur Sakristei ist dort der Grabstein der reichen Witwe Petronella Stromairin eingemauert. Von ihr heißt es, sie habe bewiesen, dass es zum Glück keinen Mann braucht: Weil sie nicht ihres Reichtums wegen geheiratet werden wollte, habe sie jahrelang sämtliche Bewerber vertröstet, heißt es. Dem Hartnäckigsten gab sie dann nach, doch zuvor sollte dieser ihr Testament lesen. Als er sah, dass das gesamte Vermögen der Witwe bei deren Tod an ihre Hausverwalterin und die Armen verteilt werden sollte, fiel ihm plötzlich ein, dass er verreisen musste. Die Stromairin starb ledig 1601.

Eine andere unerfüllte Liebe fand wenige Schritte weiter ein ganz anderes, nämlich ein entsetzliches Ende. Im Januar 1785 sprang die unglücklich verliebte 17-jährige Fanny von Ickstatt vom Nordturm der Frauenkirche in den Tod. Ihr Selbstmord wurde nach kurzer Zeit von einem Kammerherrn zu einem Briefroman namens "Die Leiden der jungen Fanni" verarbeitet, im Titel angelehnt an Goethes 1774 erschienene "Leiden des jungen Werther". Auch Goethe hörte von der Katastrophe. Als er 1786 in München war, stieg er auf den Nordturm der Frauenkirche.

Ganz anders ging es im Herrscherhaus zu. Auf der Kardinal-Faulhaber-Straße geht es nun an zwei Palais vorbei, die der sexuell unkomplizierte Kurfürst Karl Albrecht seinen Favoritinnen geschenkt hat. Vor dem Eingang in die Fünf Höfe steht rechts das Palais Porcia: Dieses schenkte er 1731 Maria Josepha Topor von Morawitzky; benannt ist das Haus nach deren späterem Ehemann, einem Grafen von Porcia. Die Straße hinab folgt mit der Hausnummer 7 das Palais Holnstein. Dieses ließ Karl Albrecht bis 1737 für Sophie Karoline von Ingelheim errichten, eine Hofdame seiner Frau, sowie für deren 1723 geborenen Sohn Franz Ludwig. Den hatte der Fürst 1728 als eigenen Sohn anerkannt und zum Grafen von Holnstein erhoben. Ein Wappen erhielt der Spross ebenfalls, es ist im Giebel des Palais zu sehen und gleicht dem alten Wappen der Wittelsbacher - bis auf ein Detail: Mittig prangt dezent ein roter Schrägbalken, ein sogenannter Bastardfaden. Der besagt, dass der kleine Franz als illegitimer Sohn keine Erbansprüche hatte. Heute ist das Palais Dienstsitz des Erzbischofs von München und Freising.

Wenige Schritte weiter geht es rechts ab in die Salvatorstraße. Linkerhand, dort, wo heute der Gebäudekomplex des bayerischen Kultusministeriums steht, war einst die stadtbekannte Schönheit Nanette Kaula zu Hause. König Ludwig I., der zahlreiche Affären pflegte, ließ seinen Hofmaler 1829 die damals 17-Jährige "schönste Jüdin Münchens" für seine Schönheitengalerie malen, so wie später Lola Montez. Die verhängnisvolle Liebschaft des Königs mit jener vermeintlich spanischen, tatsächlich irischen Tänzerin führte am Ende mit zu seiner Abdankung im Jahr 1848.

An der Feldherrnhalle lohnt ein Blick in die Theatinerkirche, die, wenn man so will, an sich ein Kind der Liebe ist: Das Kurfürstenpaar Henriette Adelaide und Ferdinand Maria von Bayern ließ sie von 1663 an aus Dank für die Geburt eines Thronfolgers errichten, des kleinen Max Emanuel. Innen sind im Stuck passend dazu viele kleine Engelsfiguren zu sehen.

Zum Abschluss geht es durch den Hofgarten - in den Arkaden ist nahe dem Eingang die Hochzeit Ottos II. mit Agnes von der Pfalz abgebildet; wir erinnern uns: der Löwe! - zum Prinz-Carl-Palais. Dieses ist heute Amtssitz des bayerischen Ministerpräsidenten und hat eine schwierige Geschichte; in der Nazizeit diente es etwa vorübergehend als Gästehaus für Benito Mussolini. Dabei ist es eigentlich ein romantischer Ort. Sein Namensgeber Prinz Carl von Bayern pfiff auf die Heiratskonventionen seines Standes. 1823 heiratete er die bürgerliche Maria Anna Sophie Petin, mit der er drei Töchter hatte und hier im "Palais Royal" lebte, wie es damals hieß.

Die offenbar glückliche Ehe war Stadtgespräch, hatte es doch eine Frau aus dem Volk geschafft, ins Königshaus einzuheiraten. Petin war sozusagen Bayerns Grace Kelly oder Meghan Markle, nur mit weniger Glamour, weil sie ja keine Schauspielerin war und es auch noch keine Paparazzi gab. Sie starb früh, bereits 1838, mit nur 41 Jahren. Carl heiratete 1859 erneut, wiederum eine bürgerliche Frau, er überlebte auch diese. Seinen Lebensabend verbrachte er mit seinen Töchtern und Enkeln am Tegernsee.

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Quelle:
SZ vom 28.11.2020
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