Hilfe für Familien:Zum Abschied umarmte ihn das Mädchen - ein schlechtes Zeichen

Hilfe für Familien: Zuhören - auch das gehört zu seinem Beruf. Bezirkssozialarbeiter Michael Röhrl besucht eine Familie in ihrem Zuhause, einer Unterkunft für Wohnungslose.

Zuhören - auch das gehört zu seinem Beruf. Bezirkssozialarbeiter Michael Röhrl besucht eine Familie in ihrem Zuhause, einer Unterkunft für Wohnungslose.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Sie stehen unter wahnsinnigem Druck: Sie entscheiden, ob Kinder in ihren Familien bleiben oder nicht. Machen sie einen Fehler, kann das dramatische Folgen haben. Ein Tag im Leben eines Bezirkssozialarbeiters.

Von Kathrin Aldenhoff

Es gibt diese Fälle, die ihm näher gehen als andere. Wie die Geschichte des kleinen Mädchens, nennen wir sie Maria. Vor einem Dreivierteljahr hat Bezirkssozialarbeiter Michael Röhrl sie in Obhut genommen. Die Grundschule hatte sich gemeldet, Maria hatte erzählt: "Die Mama haut mich." Sie hatte blaue Flecken am Körper. Das Kind war nie im Kindergarten, war seit Jahren bei keiner kinderärztlichen Untersuchung mehr, hat keinen Impfpass. Sie ist durchgerutscht, wie Michael Röhrl sagt. Und nun geht die depressive Mutter dieses kleinen Mädchens nicht ans Telefon, als Röhrl versucht sie zu erreichen. Er ist besorgt.

Röhrl, 29 Jahre alt, sportlich, kurze braune Haare, arbeitet im Sozialbürgerhaus Pasing. Er hat ein kleines Büro mit einem großen Schreibtisch im dritten Stock, in einem Regal unterm Fenster liegen Plüschtiere und Duplosteine, rund um den Monitor kleben Post-its mit Notizen. Er betreut 40 Fälle, 40 Familien. Familien in einer sozialen Notlage, Familien, die Hilfe brauchen. Neun dieser Fälle sind Gefährdungsfälle. Das bedeutet, dass das Kindeswohl in Gefahr ist. Röhrl liebt seinen Beruf. Aber er hat das Gefühl, ständig nur hinterherzurennen.

Hilfe für Familien: Familien, die Röhrl betreut, kommen auch zu Terminen in sein Büro. Deswegen hat er ein paar Spielsachen im Regal für die Kinder.

Familien, die Röhrl betreut, kommen auch zu Terminen in sein Büro. Deswegen hat er ein paar Spielsachen im Regal für die Kinder.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Es ist Donnerstagmittag, Anfang Juni. Röhrls Tag hat um 8.30 Uhr begonnen, bisher hat er mehrere Telefonate geführt, an einer Falldokumentation gearbeitet, eine Klientin war da. Eine junge Frau Anfang 20, zwei Kinder, vom Partner getrennt und nun ohne Wohnung. Die Mutter ist überfordert, fühlt sich nicht in der Lage, auf die Kinder einzugehen. Die Großmutter der Kinder hatte beim Sozialbürgerhaus um Hilfe gebeten. Vor Kurzem ist die junge Mutter zu einer Verwandten gezogen, dort kann sie aber nicht bleiben.

Röhrl und die junge Frau sitzen an einem runden Tisch im Büro. "Für den Antrag auf eine Sozialwohnung wäre es wichtig, dass Sie schon mal beim Wohnungsamt waren", sagt er. Er findet, eine Unterkunft für wohnungslose Familien wäre ein Anfang. Oder eine Mutter-Kind-Einrichtung. Sie sagt: "Ich hab' Angst davor, irgendwo zu sein, wo ich nicht sein will. Ich war so viel im Heim."

Hilfe für Familien: Röhrl und seine Kolleginnen sind für drei Stadtbezirke zuständig: Pasing-Obermenzing, Aubing-Lochhausen-Langwied und Allach-Untermenzing; dort leben insgesamt 160 000 Menschen.

Röhrl und seine Kolleginnen sind für drei Stadtbezirke zuständig: Pasing-Obermenzing, Aubing-Lochhausen-Langwied und Allach-Untermenzing; dort leben insgesamt 160 000 Menschen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Röhrl kümmert sich um Kinder, für die es normal ist, dass die Familie sich am Küchentisch anbrüllt. Kinder, deren Eltern mit Suizid drohen. Kinder, die geschlagen werden, die eine Essstörung haben, die in der Schule durch ihr aggressives Verhalten auffallen. Kinder, die einen Förderbedarf haben, die Unterstützung brauchen.

Und er hat mit deren Eltern zu tun. Mit Eltern, die sich getrennt haben und jetzt darüber streiten, wer wann die Kinder sehen darf. Mit Müttern und Vätern, die selbst als Kinder von ihren Eltern geschlagen und misshandelt wurden. Mit Eltern, die überfordert sind, die vielleicht nur das Beste für ihr Kind wollen, aber nicht wissen, was das in Wahrheit ist.

Ob er den Glauben an Familien verloren hat? Nein, sagt Röhrl. "Die lieben sich ja genauso."

Zum Abschied umarmte ihn das Mädchen - ein schlechtes Zeichen

Es ist 11.45 Uhr, Röhrl versucht zum zweiten Mal, Marias Mutter anzurufen. Niemand nimmt ab. "Vielleicht schläft sie noch", sagt er. Vor Kurzem habe er sie besucht. Sie habe ihm erzählt, wie das ist, wenn es ihr schlecht geht. Wenn sie deprimiert ist, im Bett liegt und es einfach nicht schafft, ans Telefon zu gehen.

Als Röhrl Maria das erste Mal gemeinsam mit einer Kollegin besuchte, zwei Tage nach der Gefährdungsmeldung der Grundschule, war sie bei einer Verwandten. Zum Abschied umarmte ihn das Mädchen. Das habe ihm schon gezeigt, dass da etwas nicht stimme: Ein Kind umarmt einen Fremden, nur weil der kurz nett zu ihr war? Das sei ein Hinweis, dass das Mädchen zu wenig Zuneigung bekomme.

Am nächsten Tag kamen Röhrl und seine Kollegin wieder. Er erklärte Maria die Kinderrechte, dass ein Kind in Deutschland nicht geschlagen werden darf. "Bin ich in Deutschland?", habe sie dann gefragt. Seine Kollegin und er nahmen Maria in Obhut, brachten sie in eine Schutzstelle.

Hilfe für Familien: Bezirkssozialarbeiter waren lange Zeit für alles zuständig, für Kinderschutz und Senioren mit Pflegebedarf. Heute sind die Aufgabenbereiche getrennt.

Bezirkssozialarbeiter waren lange Zeit für alles zuständig, für Kinderschutz und Senioren mit Pflegebedarf. Heute sind die Aufgabenbereiche getrennt.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Nicht alle Fälle sind so dramatisch. Aber manche klingen zunächst harmloser, als sie sind. Röhrl erzählt von einer Mutter, die sich gemeldet habe: Ihre Tochter sei außer Rand und Band, sie brauche Hilfe. Der Fall blieb eine Weile liegen, keine Kapazitäten. Schließlich meldete sich die Polizei: Die Mutter hat gedroht, sich umzubringen. Röhrl übernahm den Fall, sprach mit der Mutter. Die sagte: Ich hab' mich doch vor Wochen gemeldet, ich wollte doch Hilfe.

"Sie hat einen Anspruch darauf", erklärt Röhrl und zeigt auf ein dickes gelbes Buch, das in seinem Regal steht: "Gesetze für die Soziale Arbeit". Viele Seiten sind mit bunten Klebstreifen markiert. Zum Beispiel Seite 1774, SGB VIII, vierter Abschnitt, erster Unterabschnitt, Paragraf 27: Hilfe zur Erziehung. "Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist."

Anspruch und Wirklichkeit, dazwischen liegen in der Bezirkssozialarbeit manchmal Monate. Auf eine Ambulante Erziehungshilfe zum Beispiel, die eine Familie zu Hause unterstützt, wenn die in einer Krise steckt, wartet Röhrl monatelang. Ähnlich sei es bei Kinderkrankenschwestern oder bei Plätzen in einer Heilpädagogischen Tagesstätte.

Das Warten ist ein Problem. "Diese Schlagzahl, dass man nicht an einer Sache dranbleiben kann, weil schon der nächste Fall kommt, das ist anstrengend", sagt Birgit Stein, Röhrls Chefin. "Wenn wir keine Hilfen vermitteln können, weil die Wartelisten so lang sind", dann bleibe die Bezirkssozialarbeit in der letzten Verantwortung. "Dieses Aushalten-Müssen, das ist eine der schwierigsten Aufgaben. Das erzeugt einen enormen emotionalen und psychischen Druck."

Kommt ein Fall rein, bei dem ein Kind akut gefährdet ist, gibt Stein ihn sofort an eine Mitarbeiterin. Die anderen Fälle sammelt sie in einer Mappe, sie werden immer dienstags bei einer Teamsitzung verteilt. Eigentlich sollte die Mappe danach leer sein. Das klappt aber nicht. Selbst wenn jeder im Team einen neuen Fall übernimmt, bleiben oft welche übrig. Und ständig kommen neue Fälle dazu. Wenn es nicht anders geht, muss Stein priorisieren: Das wird jetzt gemacht, das bleibt erst einmal liegen.

Hilfe für Familien: 49 Flyer hängen an der Pinnwand in seinem Büro, von Pro Familia, den Frühen Hilfen Pasing oder der Kinder- und Jugendambulanz.

49 Flyer hängen an der Pinnwand in seinem Büro, von Pro Familia, den Frühen Hilfen Pasing oder der Kinder- und Jugendambulanz.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

In München gibt es 315 Vollzeitstellen für Bezirkssozialarbeiter im Familiendienst, davon sind 57 nicht besetzt. Zusätzliche 20 Stellen sind zwar besetzt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fallen aber aus wegen langer Krankheit oder Elternzeit. Röhrl ist seit knapp vier Jahren Bezirkssozialarbeiter. Mit 24 Kollegen wurde er damals eingearbeitet, davon sind heute noch elf dabei.

Bezirkssozialarbeiter stehen unter wahnsinnigem Druck. Sie entscheiden, ob Kinder in ihren Familien bleiben oder nicht. Wenn sie einen Fehler machen, kann das dramatische Folgen haben. Und vielleicht stehen sie am Ende sogar vor Gericht deswegen. Trotzdem sagt Röhrl: Es ist ein toller Job. "Gerade wegen der Verantwortung. Ich wollte immer in den Kinderschutz." Ihm ist es wichtig, Menschen nicht zu verurteilen. "Eine Inobhutnahme ist traumatisch für Kinder. Sie lieben ihre Eltern, auch wenn die sie misshandeln. Die Frage ist: Wie kann man die Situation so verändern, dass es zu Hause wieder geht? Es geht darum, das Risiko auf ein vertretbares Maß zu reduzieren. Denn Kinderschutz geht in den meisten Fällen nur mit den Eltern gut."

Bei Gefährdungsfällen, so wie bei Maria, arbeiten sie immer zu zweit, erklärt Röhrl. "Hilfe ist immer mit Risiko verbunden. Die Frage ist: Bin ich bereit, ein Risiko einzugehen?" Wichtig sei es, eine Beziehung zur Familie aufzubauen. Denn seine Kolleginnen und er sind ja nie dabei, wenn etwas passiert. Sie erfahren alles nur aus zweiter oder dritter Hand, daran würde auch ein unangekündigter Hausbesuch nichts ändern. "Deshalb ist es umso wichtiger, mit den Eltern in Kontakt zu kommen. Es geht nicht nur darum, die Gefährdung zu erkennen, sondern auch darum, helfen zu können. Und um zu helfen, muss man verstehen, was passiert."

Und dann, endlich, um kurz nach 17 Uhr klingelt das Telefon

Röhrl macht Mittagspause. Danach tippt er die Notizen vom Gespräch am Vormittag in den Rechner, für die Dokumentation. Dann fährt er los zum Hausbesuch, in eine Unterkunft für Wohnungslose. Als er am späten Nachmittag ins Büro zurückkommt, versucht er es erneut bei Marias Mutter. Wieder nichts. Er telefoniert mit der Mitarbeiterin des Heims, in das Maria bald ziehen soll. Die berichtet: Maria war zu Besuch in der Wohngruppe, das lief sehr gut. Maria hat mit anderen Kindern gespielt, wollte gar nicht gehen. In ein paar Tagen wird sie einziehen, der Vater begleitet sie.

Und dann, endlich, um kurz nach 17 Uhr klingelt das Telefon: Marias Mutter ist dran. Röhrl erzählt ihr, dass ihre Tochter kurz davor ist, in ein Heim zu ziehen. Sie fragt nach der Telefonnummer, will sich die Wohngruppe vorher ansehen. Und sie sagt, sie habe nicht ans Telefon gehen können, weil sie arbeiten war. "Ha", sagt Röhrl, als er aufgelegt hat. "Das freut mich."

Die Mutter, erzählt Röhrl, war als Kind selbst im Heim, ihre Mutter und ihr Stiefvater seien Alkoholiker gewesen. Als er ihr vor einem Dreivierteljahr gesagt habe, dass er Maria in Obhut genommen habe, da war sie erst überrascht, dann weinte sie. Und dann wollte sie wissen, warum.

Es ist kurz nach halb sechs. Röhrl mailt Marias Mutter noch die Telefonnummer der Wohngruppe, sortiert seine Unterlagen, dann macht er Feierabend. Er will Maria im Heim besuchen, sagt er noch. Nicht weil er muss, sondern weil es ihm wichtig ist. Vielleicht wird das Mädchen ein oder zwei Jahre dort bleiben. Vielleicht wird sie regelmäßigen Kontakt zu ihrer Mutter haben. Vielleicht wird alles gut. Dann wird er den Fall abschließen. Und einen neuen annehmen.

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