Süddeutsche Zeitung

Freizeit in der Stadt:Münchner Scheinfrühling

Die Sonne treibt die Menschen auf die Straßen. Doch solange der große Mahner in der Staatskanzlei seinen blauen Hausmeisterpullover unterm Sakko trägt, kann es nichts werden mit dem Münchner Frühling.

Glosse von Christian Mayer

Als die Welt noch nicht ganz so verrückt war wie jetzt, gab es in München das Phänomen des Scheinfrühlings, das war meist eine kurze Phase irreal schöner Tage Ende März oder Anfang April. Weil man damals noch nicht von Wetter-Apps terrorisiert wurde, kam der Umschwung völlig überraschend für die Münchner, die sofort aus dem Häuschen waren. Als habe eine höhere Macht das Ende der winterlichen Quarantäne verkündet, strömten sie in Scharen an die Isar, drängelten sich im Biergarten mit den noch kahlen Kastanienbäumen, beim Tennis Kail am Perlacher Forst droschen sie schon wieder Bälle übers Netz, denn man wähnte sich jahreszeitlich auf der sicheren Seite und holte sich gleich mal den ersten Sonnenbrand der Saison.

Aber wie gesagt: Das war nur ein Hauch von Frühling, die Vorahnung auf bessere Tage, denn kurze Zeit später kam der Winter noch mal zurück und schickte den Münchnern einen frostigen Gruß - so viel Leichtsinn gehört bestraft.

Wer in dieser Woche durch die Innenstadt radelte, konnte genau dieses Phänomen erleben: Der Scheinfrühling hat jetzt verrückterweise schon im Februar sein Coming-out, er treibt die Menschen auf die Straßen, und sie wirken ungeheuer erleichtert, wenn sie bei 20 Grad am Gärtnerplatz oder vor der Staatsoper sitzen. Ein wenig erinnert die Situation an die Tage vor Beginn der Wiesn: Man wartet sehnsüchtig darauf, dass es endlich losgeht, zieht schon mal die Lederhose an, die ein bisschen enger geworden ist seit dem vergangenen Jahr, und freut sich auf das Wiedersehen mit alten Freunden. Man fühlt sogar fast schon einen leichten Rausch, dabei hat man noch gar nichts getrunken. Jetzt müsste nur jemand den Startschuss geben.

Man selbst lässt sich natürlich gerne von dieser Euphorie anstecken, wobei man dieses Wort eher ungern in den Mund nimmt, der ohnehin FFP2-verhüllt ist, schon aus purer Gewohnheit nach so langer Zeit.

Wie gesagt: Es ist alles nur schöner Schein, denn in Wahrheit kann von einem Aufblühen in München noch lange keine Rede sein, wenn jederzeit wieder Rückschläge drohen und weitere böse Zahlen. Und solange der große Mahner in der Staatskanzlei seinen blauen Hausmeisterpullover unterm Sakko trägt, weil ihm offenbar noch immer schrecklich kalt ist, kann es ohnehin nichts werden mit dem Frühling.

Was wird das für ein Fest, wenn es dann wirklich so weit ist.

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Quelle:
SZ vom 27.02.2021
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