Süddeutsche Zeitung

München:Sim-Racing - die jüngste Form des Motorsports

Die simulierten Rennen kosten vergleichsweise wenig und sollen Jugendliche begeistern. Eine Veranstaltung in München zeigt, wie viel sich die großen Autohersteller von dieser Technik versprechen.

Von Philipp Schneider

Timo Glock hat einen Teller mit Kuchen in der Hand. Es ist fünf nach neun am Abend, es gab bei einem "Flying Dinner", das lässt sich nicht anders sagen, ausreichend zu essen, aber die Veranstaltung zieht sich auch schon seit fünf Stunden. Deshalb nochmal Kuchen.

Glock, 37, war bis vor sieben Jahren ein passabler Rennfahrer in der Formel 1, der Königsklasse des Motorsports. 91 Rennen ist er dort gefahren, unter anderem für Jordan und Toyota, dreimal schaffte er es auf das Siegertreppchen. Nun aber stellt Glock seinen Kuchenteller auf einen Beistelltisch, dann geht er in die Hocke und schaut einem anderen Rennfahrer über die Schulter: Auf einem ordnungsgemäßen Rennfahrersitz hat dort Alexander Voss Platz genommen. Voss ist 30 und fährt für Williams. Der britische Traditionsrennstall war zu Glocks Zeiten eine der feinsten Adressen im Motorsport, auch wenn er in der soeben beendeten Formel-1-Saison die schlechteste war. Zeiten ändern sich.

Voss drückt auf einen Knopf. Auf dem Bildschirm ploppt ein Fenster auf. Glock schaut interessiert. Was man da alles ändern kann! Nicht nur Reifendruck, Bremslastverteilung, Hydraulik wie bei ihm früher im Cockpit. Auch das Wetter. Und die Detailfülle der Grafik in der Boxengasse und im Rückspiegel lassen sich regulieren: hoch, normal, niedrig. Voss stellt auf niedrig. Glock starrt.

Die Nerd-Quote im Raum ist beachtlich. Aber völlig albern ist die Veranstaltung auch wieder nicht. Es wird ein digitales Rennen gefahren. Ein Konkurrent rempelt Voss in die Seite, daraufhin ist seine Lenkung hinüber. Säße Voss in einem realen Auto, er müsste aussteigen. Und einen teuren Blechschaden beheben. Sein Auto mag nicht echt sein, aber es verhält sich so. Voss lenkt nach rechts, der Wagen fährt geradeaus. Und deshalb ist Voss jetzt raus aus dem Rennen. Er flucht einen leisen Fluch. Es geht ja hier immerhin um 10 000 Euro.

"Sim-Racing" heißt die Veranstaltung, zu der der Automobilhersteller BMW am Donnerstagabend in seinen Doppel-Kegel geladen hat. "Sim" ist eine Abkürzung für Simulation und zeigt damit den Anspruch, den die Disziplin an sich selbst hat: Es geht ihr um maximale Nähe zur Realität. Sie will sich abgrenzen vom simplen Daddeln auf der Couch.

Vor einem Jahr hat der Deutsche Motor Sport Bund, der Dachverband für sämtlichen Motorsport in Deutschland, Sim-Racing als offizielle Disziplin anerkannt. Das Präsidium war zu dem Ergebnis gekommen, dass Sim-Racer einer anspruchsvolleren Beschäftigung nachgehen als die Konsolenzocker, die etwa den Affen Donkey Kong im Super Mario Kart über die Rainbow Road rutschen und Bananen auf der Strecke verteilen lassen. So sehen sie das offensichtlich auch bei BMW. Anstelle von digitalem Obst erfordert Sim-Racing neben Lenkrad, Gaspedal und Bremse im Optimalfall auch Training und Kondition.

"Also das muss man doch ernsthaftes Racing nennen, wenn man sieht, wie ernsthaft die Fahrer sich hier verhalten", sagt Jens Marquardt, der Motorsportdirektor des Herstellers auf entsprechende Nachfrage. Im übrigen sei die Veranstaltung vortrefflich geeignet, "die junge Generationen zu erreichen und auch diejenigen an den Motorsport heranzuführen, die sich vielleicht noch nicht für ihn interessieren". Und das alles erreicht man mit einem überschaubaren Kostenaufwand.

Sie haben sich das natürlich schön überlegt bei BMW: Auf der Bühne steht am Donnerstag ein realer weißer Flitzer, der sich neuerdings ganz real erwerben lässt. Und den digitalen Zwilling exakt dieses Wagens steuern auch die Fahrer in den Simulatoren. Die Veranstaltung wird von professionellen Kommentatoren auf Englisch begleitet - und live im Internet übertragen. Geladen sind nicht nur talentierte Sim-Racer, auch Spiele-Journalisten und Influencer. Jimmy Broadbent ist einer von ihnen. Broadbent hat auf seiner Seite ein Video hochgeladen, es heißt: "Wie ich im Formel-E-Wagen schneller durch das Monaco von 1966 fahre als Jim Clark." Broadbent tritt an im Wettbewerb der Journalisten. Man sieht ihn nur von hinten.

"Heute fahren wir noch im kleinen Kegel. Nächstes Jahr fahren wir im großen Kegel mit 800 Leuten", ruft Stefan Ponikva, der "Leiter Markenerlebnis", im Doppelkegel: "Und irgendwann vielleicht mal in der Olympiahalle!"

In Zeiten von Klima- und Automobilkrise müssen sich die Hersteller gut überlegen, wie sie ihr Image polieren. Die Münchner stiegen vor zehn Jahren aus der Formel 1 aus und überließen die Rekorde im wichtigsten Wettbewerb der Verbrennungsmotoren ihren Konkurrenten aus Stuttgart. Stattdessen fahren sie seit einem Jahr mit in der Formel E, der Serie mit elektrifizierten Boliden. Und nun auch beim Sim-Racing. Es gehe BMW um einen "holistic approach", einen ganzheitlichen Ansatz im Motorsport, sagt Marquardt.

Tatsächlich ist es gar nicht so einfach, die völlig emissionsfreie Simulation eines Wagens mit Verbrennungsmotor unfallfrei um die Kurven des Nürburgrings zu steuern. Netterweise haben sie die kurze Strecken-Variante ausgewählt, also ohne Nordschleife. Nach einer schlechten Zeit in der Qualifikation startet man von so weit hinten, dass die Ampel kaum zu erkennen ist. Zur Strafe für den Fehlstart wird man auch noch in die Boxengasse versetzt. Ebenfalls ungewohnt: Ein richtiger Rennfahrer nutzt beide Füße, den linken für die Bremse, den rechten fürs Gas. Profis wie Alexander Voss ziehen vor dem Rennen die Schuhe aus, durch die Socken spüren sie mehr. Und selbst manch ein Spielejournalist bringt Handschuhe mit. Ja, Rennfahrerhandschuhe.

Die Handschuhe sind eine wunderbare Ausrede für denjenigen, der Letzter wird.

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SZ vom 07.12.2019/mmo
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