Sexualisierte Gewalt:Stadt will Missbrauch an Kindern aufarbeiten

Marie Mattfeld Haus, 2021, Oberammergau

Das frühere Hänsel- und Gretel-Heim in Oberammergau, in dem vor Jahrzehnten Kinder misshandelt worden sind, gehört der Stadt München.

(Foto: Natalie Neomi Isser)

Welche Verbrechen wurden an Mädchen und Jungen begangen, die zwischen 1945 und 1999 in Heimen, Pflege- und Adoptivfamilien untergebracht waren? Eine Untersuchung soll diese Frage nun doch noch umfassend klären.

Von Bernd Kastner und Rainer Stadler

Die Stadt München will den Missbrauch von Kindern umfassend aufarbeiten. Es geht um Verbrechen an Mädchen und Buben, die in Verantwortung der Stadt in Heimen sowie in Pflege- und Adoptivfamilien untergebracht waren. Untersucht werden soll die Zeit von 1945 bis 1999. "Die Landeshauptstadt stellt sich ihrer Verantwortung für die historischen Missstände ihrer Institutionen", heißt es in der Vorlage des Sozialreferats. Wenn am Dienstag der Kinder- und Jugendhilfeausschuss und Ende Juli die Vollversammlung zustimmen, wird die umfassendste Untersuchung zu Missbrauch gestartet, die es bisher in München gab.

Beantragt haben eine "lückenlose" Aufarbeitung die Fraktionen von Grünen und SPD. Anlass war ein SZ-Bericht Ende Januar über sexualisierte Gewalt und körperliche Misshandlung in den 60er- und 70er-Jahren in mehreren Häusern in Oberbayern. Ehemalige Heimbewohner berichten von systematischem und jahrelangem sexuellem Missbrauch; sie beschuldigen Geistliche, Ordensschwestern und weltliches Personal. Einige der Taten wurden von der Kirche anerkannt.

Tatorte waren demnach das Kinderheim samt Hilfsschule in Feldafing, bis 1972 vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Bayern betrieben, das städtische Hänsel-und-Gretel-Heim in Oberammergau, das bis 1999 der Orden der Niederbronner Schwestern leitete. Auch im Jugendheim Salesianum in München soll es zu Missbrauch gekommen sein, ebenso im Kloster Ettal, wohin Kinder in den Ferien geschickt worden seien.

Das Sozialreferat stimmt Grün-Rot zu: Man sehe "dringenden Handlungsbedarf" und möchte "dazu beitragen, dass erfahrenes seelisches und körperliches Leid anerkannt und somit den Betroffenen, wenn auch erst sehr spät, Gerechtigkeit mit dieser Anerkennung widerfährt". Das Haus von Dorothee Schiwy (SPD) sehe es als seine Pflicht an, "die Verantwortung für die Vergangenheit der städtischen Institutionen zu übernehmen"; die Betroffenen hätten ein Recht darauf.

Eine erste Missbrauchsstudie gab es bereits vor knapp zehn Jahren und bezog sich ausschließlich auf die drei städtischen Kinderheime in München und Oberammergau. Sie blieb an der Oberfläche, es war lediglich eine Historikerin mit Recherchen zu Geschehnissen in mehreren Jahrzehnten beauftragt. Obwohl in dem 2014 veröffentlichten Buch "Weihnachten war immer sehr schön" Verbrechen an Kindern skizziert und damit offiziell anerkannt wurden, unterließ die Stadt damals eine intensive Aufklärung.

Die will man nun nachholen. Grüne und SPD wollen ausdrücklich untersucht haben, ob es pädophile Netzwerke gab. Diesen Verdacht formulieren mehrere frühere Heimkinder und ihre Unterstützer, sie vermuten ein Zusammenspiel aus Tätern, Unterstützern und Mitwissern in kirchlichen und staatlichen Strukturen. Das Sozialreferat will nun Pflege- und Adoptivfamilien in die Untersuchung einbeziehen und begründet dies mit dem Wissen über Strukturen in Berlin. Dort wurden seit den 1970er-Jahren Pflegekinder an vorbestrafte pädophile Männer vermittelt. Ob es Ähnliches auch in München gab, soll beleuchtet werden. Zudem will die Stadt klären, was sich über Täter herausfinden lasse, welche Rolle städtische Mitarbeiter und Institutionen spielten und "die Frage beantworten, ob allen Betroffenen im bestmöglichen Maße geholfen wurde".

In Gesprächen mit der SZ kritisierten frühere Heimkinder mangelnde Unterstützung - finanziell, aber auch im Kontakt mit Behörden oder Kirche. Welche Erkenntnisse die neue Aufarbeitung bringt, ist angesichts der verstrichenen Zeit und der dürftigen Aktenlage völlig offen. "Viele Tausend Kinder" seien durch die Stadt untergebracht worden, teilweise nicht nur in anderen Bundesländern, sondern auch im Ausland, stellt das Sozialreferat fest.

Die Recherche ihrer Schicksale sei sehr aufwendig und nur mit sachkundiger Anleitung möglich. Deshalb will Schiwy zunächst eine multiprofessionelle Kommission aus Expertinnen und Experten einsetzen, die die Aufarbeitung leiten soll. Das Gremium wird als unabhängig bezeichnet, obwohl die Mitglieder von Sozialreferat und Stadtrat berufen werden sollen. Der Kommission sollen Fachleute aus Verwaltung, Kriminologie, Justiz, Soziologie, Psychologie, historischer Wissenschaft und aus dem Kreis der Betroffenen angehören. Im Oktober soll die Kommission stehen. Anschließend soll ein wissenschaftliches Institut die eigentliche Untersuchung durchführen, unter anderem auf Basis von Interviews mit Betroffenen.

Parallel dazu will die Stadt mit Trägern von Heimen kooperieren. Derzeit arbeite das Jugendamt bereits mit dem Paritätischen und den Niederbronner Schwestern zusammen. Die Stadt will in einem "Verbund" mit weiteren Trägern die Vergangenheit aufarbeiten. Dies dürfte Jahre dauern. Die Stadt strebe nach eigener Darstellung in dieser Zeit "größtmögliche Transparenz" an und wolle mindestens einen Zwischenbericht veröffentlichen.

Mögliche Entschädigungszahlungen an frühere Heimkinder erwähnt das Sozialreferat in der Vorlage nur beiläufig. Dies ist relevant, weil die Stadt im Rahmen der ersten Aufarbeitung ein den Betroffenen gegebenes Versprechen gebrochen hat: Man sicherte zu, auch finanzielle Verantwortung zu übernehmen und in den damaligen bundesweiten Heimkinder-Fonds einzuzahlen. Den städtischen Anteil übernahm dann jedoch der Freistaat - die Stadt sparte sich die finanzielle Entschädigung.

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