Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: München vor der Wahl:"Und dann checken sie Mülleimer"

Sie sammeln Pfandflaschen, bessern ihre Rente mit Nebenjobs auf, solange es die Gesundheit zulässt, oder heizen ihre Wohnung nicht: Gerade Senioren geben sich viel Mühe, ihre Armut im reichen München zu verstecken.

Von Sven Loerzer

Oft lässt sich nicht auf den ersten Blick erkennen, wenn Rentner so wenig Geld haben, dass sie jeden Cent umdrehen müssen. Wenn Anna Kunkel auf den Plätzen und Straßen in Sendling unterwegs ist, dann muss sie genau hinschauen: Denn ihre Aufgabe ist, alten Menschen, die Hilfe und auch finanzielle Unterstützung bräuchten, aber sich nicht selbst darum kümmern, all das zu vermitteln, was ihnen das Leben erleichtern könnte.

Manchmal lässt sich Armut bei älteren Menschen daran erkennen, dass ihre Kleidung alt und verschlissen ist. Aber häufig wirken alte Leute auch sehr gepflegt, setzen alles daran, dass ihr Äußeres nicht erkennen lässt, wie knapp sie bei Kasse sind. "Und dann checken sie Mülleimer", sagt die Sozialarbeiterin des Alten-und Serviczentrums (ASZ) Sendling der Arbeiterwohlfahrt. Um Pfandflaschen zu sammeln oder anderes, was sich verwerten lässt. Einige wiederum versuchen, so lange es Alter und Gesundheit erlauben, die Rente mit einem kleinen Nebenjob aufzubessern. Oder schlagen sich mit Hilfe von Bekannten und Freunden durch, pumpen sie an, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Dabei hätten sie sogar Anspruch auf Hilfe. Grundsicherung im Alter erhalten Menschen, die so wenig Rente und Vermögen haben, dass es nicht reicht, um davon Miete und Lebensunterhalt zu bestreiten. 432 Euro zuzüglich angemessener Miete stehen ihnen monatlich zu, die Stadt leistet außerdem schon seit 2008 freiwillig einen Zuschlag, 21 Euro. Mehr als 15 000 Münchnerinnen und Münchner im Rentenalter erhalten Grundsicherung, ihr Anteil ist in der Vergangenheit stetig gestiegen, wenn auch zuletzt langsamer.

Zwischen Stadt und Land ist das Gefälle groß, was vor allem mit den hohen Mieten zusammenhängt. 5,8 Prozent der Münchner, die das reguläre Renteneintrittsalter überschritten haben, bezogen 2018 Grundsicherung, aber bayernweit betrachtet lag die Quote nicht einmal halb so hoch, bei 2,8 Prozent. Studien zufolge aber hätten weit mehr Menschen Anspruch auf die staatliche Unterstützung: In München machen demnach, wie der Armutsbericht 2017 verdeutlichte, knapp 10 000 Menschen ihren Anspruch nicht geltend.

Um diese Menschen zu erreichen, hat die Stadt 2019 ein neues Angebot gestartet: Sie finanziert in vier der 32 Alten- und Servicezentren erstmals jeweils eine Halbtagsstelle für Streetworker - Sozialarbeiter, die auf der Straße Kontakt zu Senioren aufbauen, die zu viel Hemmungen haben, sich selbst Beratung zu suchen und dazu in die Alten- und Servicezentren zu kommen. Denn gerade im Alter ist Armut stark mit Scham besetzt und verstärkt die Einsamkeit, die durch den Tod von nahestehenden Menschen ohnehin zunimmt.

Vorbehalte gibt es aber auch deshalb, weil bei Senioren "Ängste bestehen, dass der Bezug von Grundsicherung mit irgendwelchen Bedingungen verbunden ist, und man die Autonomie abgeben muss", erklärt Kunkel. Durch ihre Präsenz im Viertel hat sie Vertrauen aufbauen können und Einblick erhalten in die finanzielle Situation. Sie konnte Senioren beraten, ihnen dank Tablet beispielsweise mit dem Wohngeldrechner im Internet zeigen, dass sie Anspruch auf Wohngeld haben. In anderen Fällen half sie, den Antrag auf Grundsicherung zu stellen.

Gerade Menschen, die ihr ganzes Leben ohne Hilfe ausgekommen sind, tun sich schwer einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen. Und kommen deswegen auch nicht in ein ASZ, das sie vor allem mit Hilfe verbinden. Dass es dort auch Begegnungsangebote gibt und inzwischen auch einen von der Stadt finanzierten kostenfreien Mittagstisch für Senioren mit geringem Einkommen, "das wissen viele nicht von denen, die ich anspreche", sagt Kunkel.

Dabei ist die Grundsicherung im Alter ohnehin äußerst knapp bemessen, vor allem für das Leben in teuren Großstädten. Alte Menschen leiden zudem häufiger unter gesundheitlichen Einschränkungen. Seit der 2004 in Kraft getretenen Gesundheitsreform bezahlen die Krankenkassen die Kosten für nicht verschreibungspflichtige Medikamente, etwa Hustentropfen, Nasenspray oder Schmerzsalbe, nicht mehr. Wer eine Brille braucht, muss versuchen, sich den Betrag zusammenzusparen. Sonst bleibt nur die Hoffnung, dass sich Spender oder Stiftungen finden, die bereit sind, den Kauf zu finanzieren. Auch die einmaligen Leistungen, wie sie früher in der Sozialhilfe möglich waren, um beispielsweise den Ersatz von defekten Haushaltsgeräten zu finanzieren, hat der Bund abgeschafft.

Wie schon ihre beiden Vorgänger tritt Sozialreferentin Dorothee Schiwy (SPD) dafür ein, den bundesweit festgelegten Regelsatz wegen der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten zu regionalisieren. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) und die SPD-Stadtratsfraktion sprachen sich im vergangenen Jahr dafür aus, den durch die gesetzlichen Vorgaben bisher gedeckelten städtischen Zuschlag von 21 Euro auf 100 Euro monatlich zu erhöhen. "Das wäre eine spürbare Entlastung für die Betroffenen", betonte Reiter beim Jahresempfang des Sozialverbands VdK vor einem Jahr. Etwa 15 Millionen Euro würde das die Stadt pro Jahr kosten. "Wir wollen, dass die rechtlichen Hürden fallen", sagte Christian Müller, Fraktionschef der SPD im Rathaus. Das soll den Senioren ermöglichen, "was ihnen der Bund verwehrt: einen Regelsatz, von dem man auch in München menschenwürdig leben kann".

Zwar hat Schiwy, getragen zumeist von SPD-Anträgen und einstimmigen Stadtratsbeschlüssen, eine ganze Reihe von kleineren, aber durchaus nicht unwesentlichen Entlastungsmöglichkeiten geschaffen. Das hilft auch Menschen, die kaum mehr als Grundsicherung zum Leben haben, aber bislang keinen München-Pass bekamen, der zum Beispiel dazu berechtigt, das günstigere MVV-Sozialticket zu nutzen. Einen Großstadtzuschlag gegen die verschärfte Armut im Alter gibt es nicht.

Ob eine Grundrente, um deren Einführung die Bundesregierung noch ringt, für Senioren in München viel bringt, ist zweifelhaft. Denn diesen Zuschlag zu kleinen Renten soll es erst nach 35 Versicherungsjahren geben. Zur Errechnung gibt es komplizierte Vorgaben, die jedoch erkennen lassen, dass damit die Grundrente in München in vielen Fällen nicht zum Leben reichen wird. Wegen der hohen Mieten müssten deshalb diese Rentner weiter Grundsicherung beim Sozialamt beantragen. Sie würden aber nach den Berliner Plänen monatlich 100 bis 200 Euro mehr in der Tasche haben, weil dann nicht die volle Rente als Einkommen angerechnet werden soll.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4779535
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 31.01.2020/kaal
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.